Etrurien und Mittelmeerraum. European Joint Doctorate in ARchaeological and Cultural Heritage MATerials Sciences, Universität Rom ,La Sapienza‘, 24.–26. Juni 2019

Ein Beitrag von Andrea Babbi.

Wieder auf der Via Aurelia, waren wir an der Abzweigung nach Cerveteri. […] Wir fuhren nun an den sogenannten Monterozzi vorbei […]. 
 „Wohin fahren wir?“ fragte Giannina. „Wir fahren zu Gräbern, die über vier- oder fünftausend Jahre alt sind“, antwortete er [der Vater] wie jemand, der anfängt, ein Märchen zu erzählen, und sich deshalb auch nicht scheut, bei den Zahlen zu hoch zu greifen. „Etruskische Gräber.“ 
 „Papa“, fragte Giannina, „warum sind alte Gräber nicht so traurig wie neue?“ „Weißt du“, antwortete [der Vater], „die vor kurzem Verstorbenen sind uns noch näher, und darum haben wir sie lieber. Aber die Etrusker sind doch schon so lange tot“ – und wieder erzählte er ein Märchen , „dass es ist, als ob sie nie gelebt hätten, als wären sie schon immer tot gewesen.“  
„Aber so, wie du das sagst,“ [brachte Giannina sanft hervor], glaube ich jetzt, dass die Etrusker doch gelebt haben, und ich habe sie so lieb wie alle anderen“.  
Der Besuch der Gräberstadt stand nun ganz unter dem Zeichen des ungewöhnlichen Zartgefühls, das aus Gianninas Worten sprach. Kein anderer als sie hatte unser Verständnis geweckt. Sie, die jüngste, hatte uns gewissermaßen an der Hand genommen.

G. Bassani, Die Gärten der Finzi-Contini, Berlin 2016, 14–16.


Das Profil der ewigen Stadt tanzt schlängelnd am Horizont, während ich die Via Appia entlang fahre und von den grünen Hügeln der Castelli hinunter in die sommerheiße Hauptstadt gelange. Die Kollegen der Universitäten von Évora und Sapienza, die das European Joint Doctorat ARCHMAT leiten, erwarten mich auf dem Unicampus am Botanik-Gebäude, nicht weit des großen Brunnens, auf dem die imposante Bronzestatue der Minerva thront.

Wenige Stunden später stehe ich im Marini-Bettolo-Raum und erkläre dreizehn Doktoranden von vier verschiedenen Kontinenten und einigen ihrer Dozenten die Hauptlinien des Forschungsprojekts, das sich auf die Siedlung und die protohistorischen und etruskischen Nekropolen in der Nähe des Monte Bisenzio am wunderschönen Bolsenasee (Viterbo, Italien) (Abb. 1) fokussiert. Das von der DFG zwischen 2015 und 2017 geförderte und von mir koordinierte Projekt „Bisenzio“ – mit der Unterstützung des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz (Prof. Dr. Markus Egg) – wird von den ARCHMAT-Kollegen als Vorbild für Multidisziplinarität und Internationalisierung gewertet

Abb. 1: Capodimonte, Bisenzio-Hügel (Foto: A. Babbi).


Dank einer vielfältigen ganzheitlichen Annäherung an die Realität der Antike wurden zahlreiche relevante Ergebnisse erzielt, darunter etwa die Rückdatierung des Anfangs der sesshaften Gemeinschaft und das Überdenken eines der bisher wichtigsten interpretativen Paradigmen, das zur Erklärung der Entwicklung von Siedlungsstrategien in der frühen Eisenzeit in Südetrurien dient. Mein Vortrag lenkt die Aufmerksamkeit des Publikums auf die folgenden Themen: Planung und Verwaltung des Projekts, Durchführung der zahlreichen Feldforschungen, die historisch-archäologische Kontextualisierung der Ergebnisse sowie ihre wissenschaftliche Kommunikation und Verbreitung in der Öffentlichkeit. Auf einigen Präsentationsfolien finden sich Bilder der figurativen Szenen des berühmten Bisenzio-Wagens (Abb. 2), ein Meisterwerk der zentralitalienischen geometrischen Kunst des fortgeschrittenen 8. Jahrhunderts vor Chr. und Sinnbild des Reichtums der Nekropole von Bisenzio. Diese Bilder vermitteln die Wahrnehmung des biotischen Kreislaufs des Menschen und seiner Gemeinschaft sowie die Synergie mit, aber auch den Kontrast zur wilden, ungeregelten und damit gefährlichen Natur. Das Seminar schließt mit einer lebhaften Diskussion ab, die die wichtigsten und interessantesten Aspekte der Forschung betrachtet (Abb. 3). 


Abb. 2: Bisenzio-Wagen, Olmo Bello Nekropole, Grab 2
 (nach M. Pallottino (Hrsg.): Die Etrusker und Europa, Mailand-Paris 1992, S. 162).

Abb. 3: Rom, Vortrag am 24.07.2019 (Foto A. Fundurulić).


Am nächsten Tag fahren wir mit einer Gruppe von mehr als zwanzig Teilnehmern zu den UNESCO-Stätten Tarquinia und Cerveteri (Abb. 4). Die ungünstigen Temperaturen (bis zu 40 Grad) können die Neugier und die Begeisterung, die sich vor den farbenfrohen Fresken der tarquinischen Gräber in Bewunderung entfalten, nicht bremsen. Der Blick verweilt, um die archaischen Szenen zu betrachten, die einen aristokratischen Lebensstil preisen. Wilde Tiere, gelehrige Hirschkälber vor bukolischen Hintergründen, gelenkige Tänzerinnen, die in semitransparente Gewänder gehüllt sind, gutaussehende Athleten und starke Boxer beleben die Wände. Die runden und kräftigen Gliedmaßen und die länglichen und fliehenden Profile spiegeln den ästhetischen Kanon Ioniens wider. Dieser wurde von den vor der Bedrohung des Königreichs Persien im 6. Jahrhundert v. Chr. geflohenen Künstlern aus den gefallenen Städten mitgebracht. 

Abb. 4: Tarquinia, ein Teil der Gruppe am Eingang von Grab Orkus I (Foto A. Fundurulić).

Mit jeder Stufe, die zu den Grabkammern hinabführt, reisen wir ein Stück in die Vergangenheit. So betritt man am Ende des Korridors (dromos), der zu den Gräbern Orkus I, II und III führt, nicht nur einen Ort, sondern auch eine vergessene Zeit. Der Zutritt zum Grabraum und somit die Nähe zu den erhaltenen Fresken ermöglicht uns, die Wandmalerei des 5. und 4. Jahrhunderts zu bewundern, die mit geschickten Weißhöhungen und Schraffuren den Körpern der Figuren, die an ihrem Bankett im Jenseits teilnehmen, Volumen verleiht. Die Verstorbenen tafeln nun im Jenseits und sind umgeben von griechischen mythischen Charakteren mit melancholischem und verträumtem Blick (Achmemrun/Agamemnon, Teriasals/Teiresias), geflügelten Dämonen (Tuchulcha) mit adlerartigen Gesichtern und Schlangen in den Haarsträhnen sowie von der Königin der Unterwelt (Phersipnai/Persephone) und ihrem Gemahl (Aita/Hades), abgebildet auf dem Thron.

Am Nachmittag erreichen wir Cerveteri und besuchen die majestätische Nekropole „Banditaccia“ – ganz so, als ob wir den Spuren von Bassanis „Giannina“ folgen würden. Hier im Schatten jahrhundertealter Kiefern, umgeben von einem unaufhörlichen Zirpen der Zikaden, beobachten wir die meisterhafte Arbeit von Architekten, die dank des leicht bearbeitbaren vulkanischen geologischen Substrats – im Gegensatz zum festen Sedimentgestein von Tarquinia – imposante Grabdenkmäler modellierten (Abb. 5). Während in Tarquinia nur eine kleine Anzahl von orientalisierenden fürstlichen Grabhügeln (7. Jh. v. Chr.) Spuren der Einflüsse des levantinischen Dekorrepertoires (z.B. Alabastergips für den vorbereitenden Schicht der Fresken) und der zypriotischen Architektur (z.B. breite Dromoi zur Abhaltung von Trauerzeremonien) überliefert, zeigt ein großer Teil der Grabdenkmäler in Cerveteri die Lebendigkeit und Ausdauer der Kontakte mit dem östlichen Mittelmeer anhand der architektonischen Details und der Grundrisse der Gräber. Darüber hinaus kann man den Übergang von einer Stammesgemeinschaft, die familiäre Bindungen durch kleine Gruppen von Einzelbestattungen widerspiegelt, zu einer aristokratischen Gesellschaft erkennen, die große orientalisierende und früh-archaische Grabhügel einsetzt, um generationenübergreifend die erweiterte Familie ehren und schützen zu können und zudem die eigene Präsenz und Macht innerhalb des Landes zu verdeutlichen. Letztlich ist auch eine „isonomische“ Struktur im oligarchischen Sinne zu finden, die sich in den homogenen archaischen und spätarchaischen tombe a dado widerspiegelt, die sich auf orthogonalen Strecken reihen. 

Abb. 5: Cerveteri, die Gruppe an einem Grabhügel 
in der „Banditaccia“ Nekropole (Foto A. Fundurulić).

In Cerveteri lassen die Dimensionen, der Ort, die architektonischen Besonderheiten und einige spezifische Einrichtungsgegenstände immer noch den ausgeprägten Dynamismus und den durchdringenden Einfluss spüren, die die etruskischen Familien dank der Kontrolle der zentralen Mittelmeernetzwerke ausübten. Hierunter fallen etwa Throne und Schilde – sowohl konkrete, aber auch eingemeißelte oder gemalte – Außentreppen, die den Bestattungsritualen dienten, um den Verstorbenen zu ehren und den sozialen Vorrang der Überlebenden zu erhöhen.

Der letzte Tag ist dem Nationalen Etruskermuseum „Villa Giulia“ in Rom gewidmet, das in der „villa suburbana“ aus der Renaissancezeit untergebracht ist, die Mitte des 16. Jahrhunderts von Papst Julius III. erbaut wurde. Bevor wir die Ausstellungsräume betreten, gehen wir durch die drei aufeinanderfolgenden italienischen Gärten und hinunter, um das tiefe Nymphäum zu beobachten, in dem der Papst und seine Gäste an Sommertagen Erfrischung fanden (Abb. 6). Im Schatten der Glyzinien und Hecken, auf den Marmortreppen und entlang der mit Fresken geschmückten Wände sitzen amerikanische Kunststudentinnen, die sich im Reproduzieren der von Vignola, Vasari und Ammanati entworfenen Architektur und Dekorationen, die unter anderem von Michelangelo ausgearbeitet wurden, üben. Die Ausstellungen des Etruskischen Museums führen uns an der Hand zu den Resten gelebter Leben, die mit Bestattungsriten vervollständigt wurden, die die Evokation der menschlichen Figur durch die Anthropomorphisierung der Urne oder durch polymaterialische Bilder (sphyrelata) und die Niederlegung von Gegenständen, die wahrscheinlich während der Trauerzeit ausgestellt und schließlich mit dem Verstorbenen begraben werden, beinhalteten. 

Abb. 6: Rom, ein Teil der Gruppe am Anfang der Führung
 im nationalen Etruskermuseum „Villa Giulia” (Foto A. Fundurulić).

So endete die italienische Erfahrung, und es ist faszinierend zu sehen, wie ein roter Faden durch sie läuft und alles in Einklang bringt. Während in der etruskischen Tradition das höchste und wichtigste Wissen der Götter und ihres Willens von dem weisen Kind Tarchies/Tages an die Etrusker weitergegeben wurde, war es die einfühlsame Giannina, „die jüngste“, die Bassani und ihren Freunden „zu verstehen“ half. In unserem Fall waren es die begeisterten jungen Doktoranden, die aus fernen Ländern kamen, die die Lehre vieler früherer Leben gesammelt haben, um sie für die Zukunft nutzbar zu machen.

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