Tier/Mensch-Unterscheidungen

 Gastvortrag von Univ.-Prof. Dr. Damaris Nübling: „Tier/Mensch-Unterscheidungen und -Überschneidungen in Lexikon und Grammatik“

Ein Beitrag von Maral Schumann

Im Rahmen der Plenumssitzung unseres Graduiertenkollegs am 15.06.2023 konnten wir Univ.-Prof. Dr. Damaris Nübling als Gastvortragende gewinnen. In ihrem Vortrag mit dem Titel „Tier/Mensch-Unterscheidungen und Überschneidungen in Lexikon und Grammatik“ zeigt sie eine spannende und für die Mitglieder des GRK gewinnbringende Forschungsperspektive auf. Die im Titel angeführte Unterscheidung zwischen Tieren und Menschen in der deutschen Sprache wird in einer historischen Perspektive ab dem Mittelalter anhand lexikalischer Segregation erläutert. Die Überschneidungen hingegen werden aus der Gegenwartssprache heraus thematisiert. Übergeordnet wird innerhalb beider Erläuterungen die kulturelle Bedingtheit der Sprache betont. 

Historisch gesehen wurden die Eigenschaften, die Mensch und Tier gemeinsam haben, beispielsweise Essen, Trinken, Schwangerschaft oder Tod, distanziert empfunden. Diese kulturelle Wahrnehmung spiegelt sich in der Sprache wider, sodass unterschiedliche Wörter für Menschen und Tiere bezüglich der angesprochenen Eigenschaften verwendet werden. Die meisten Tier-Mensch-Vergleiche sind meist negativ behaftet. Ein Beispiel, das Prof. Nübling hierfür anführt, ist, dass sich solche Wörter, die ursprünglich Schlachtvieh zugeschrieben werden, sich in besonderem Maß als Schimpfwort eignen (Abb. 1).


Abb. 1: Historische Distanzierung und Subordinierung des Tieres.

Beispiele, die die lexikalische Mensch/Tier-Segregationen unterstreichen, sind: „essen/fressen, trinken/saufen“ (Nahrungs-/Flüssigkeitsaufnahme), „schwanger/trächtig, gebären/werfen, ermorden/schlachten“ (Schwangerschaft, Geburt, Tod), „Mensch/Tier, Säugling/Baby, Mann/Männchen, Frau/Weibchen, Leiche/Kadaver“ (Lebewesensbezeichnungen) und „Mund/Maul, Lippe/Lefze, Haut/Fell“ (Körperteile).

In anderen germanischen Sprachen, wie z. B. English, Schwedisch, Niederländisch oder auch in anderen indoeuropäischen Sprachen, gibt es keine systematische, lexikalische Unterscheidung zwischen Menschen und Tieren wie im Deutschen. Ob es sich um ein Alleinstellungsmerkmal des Deutschen handelt, ist weiterhin ein Forschungsdesiderat der sprachwissenschaftlichen Forschung. Die Sprache wird in diesem kulturanalytischen Forschungsansatz als Träger und Motor kultureller Entwicklung verstanden. Dies bedeutet, dass sich in der verbalen oder schriftlichen Ausdrucksweise Kultur widerspiegelt und gleichzeitig die Sprache Sichtweisen auf alltägliche Gegenstände bestimmen kann.

Es wurden thematisch passende Forschungsergebnisse aus der Doktorarbeit von Julia Griebel mit dem Titel „das thier friszt, der mensch iszt“ vorgestellt (Abb.2). Sie hat in ihrer Arbeit die Belege zur Diachronie der lexikalischen Mensch-Tier-Grenze in Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, Frühhochdeutsch sowie Neuhochdeutsch untersucht. Ein Überblick ihrer Ergebnisse zeigt, dass sich zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert eine sprachliche Differenzierung zwischen Menschen und Tieren durchsetzt. Betrachtet man z. B. den Subjekttyp Tier + „essen/fressen“ sieht man, dass am Beginn des Mittelhochdeutschen das Tier mehr „gegessen“ hat als „gefressen“. Dies ändert sich ab dem 16. Jahrhundert (31 %) und es wird ab diesem Zeitpunkt stetig (94 %) mehr „fressen“ als „essen“ für ein Tier verwendet. Die Verwendung des Wortes „essen“ für Mensch war und blieb im genannten Zeitraum dominant (96 % -99 %). Zusammenfassend bedeutet dies, dass seit der Frühen Neuzeit der Mensch Tiere sprachlich von sich differenziert.


Abb. 2: Julia Griebel „das thier frist, das mensch, iszt“, Heidelberg 2020.

Die Verben essen vs. fressen im Mittelhochdeutschen grenzen zunächst Menschen, Vögel und Nutztiere (selten auch Fabeltiere) gegen Wildtiere ab (Abb. 3). Die Objekte, die gefressen werden, sind oft menschliche, tierische oder ekelhafte Gegenstände (z. B. Aas, Erbrochenes). Haus- oder Nutztiere sind in den Anfängen dieser sprachlichen Differenzierung noch nicht abgesondert vom Verb „essen“. Erst später wird auch für diese Tiergruppe das Wort „fressen“ verwendet. Hierin wird er Prozesscharakter dieses Forschungsansatzes verdeutlicht.


Abb. 3: Verteilung von ezzen und frezzen auf die Tierarten im Mittelhochdeutsch.

In der Lutherbibel (1545) isst ein Mensch zu 92,5 %, aber zu 7,5 % frisst er (z. B. „[Sie] fressen Schweinefleisch“ oder „und muss mein Leid in mich fressen“). Hier ist die Verwendung des zu essenden bzw. fressenden Objekts relevant: Wenn es sich um etwas Verwerfliches oder Unangenehmes handelt, wird „fressen“ verwendet. Die Tiere in der Lutherbibel fressen zu 84,2 % aber an einigen Stellen (15,8 %), wie z. B. „essen die Hündlin vnter dem Tisch/ von den brosamen der Kinder“ essen diese. Bei dem Vergleich zwischen der Lutherbibel und anderen frühhochdeutschen Corpora, beispielsweise dem Bonner Frühneuhochdeutschcorpus, ist festzustellen, dass bei Luther Tiere vergleichsweise oft „fressen“ (Abb. 4). Im 19. Jahrhundert zwischen 1800 und 1840 hat sich die Tier/Mensch-Grenze etabliert. Die Menschen essen in 92,5 % der Fälle und die Tiere fressen zu 89,5 %. Ein Beispiel: „Iß wie ein Mensch […] und frißt nicht zu sehr, auf daß man dir nicht gram werde“ (1838).

Abb. 4: essen/fressen in der Lutherbibel.

In der Gegenwart wird die Tier/Mensch-Grenze verfestigt. 96,5 % der Menschen essen 91,38 % der Tiere fressen. Ausnahmen gibt es jedoch weiterhin: Wird auf verwerfliches Verhalten hingewiesen, so wird weiterhin auch für Menschen „fressen“ verwendet. Eine besondere Rolle erhalten unsere Haustiere, die oft „essen“.

Als nächster Exkurs wurden Diminutive, also Verniedlichungen, thematisiert. Als Beispiel führt Prof. Nübling die Gegensätze Weibchen/Männchen und Weib/Mann an. Bis ins Frühneuhochdeutsche wurden weibliche Tiere auch Fräulein, Gemahlin, Weib und männliche Tiere Mann, Gemahl, er, genannt. Umgekehrt können Menschen Weibchen bzw. Männchen sein, ein Beispiel: „Ein Mädchen oder Weibchen wünscht Papageno sich“ (Zauberflöte, Ende 18. Jh.). Parallel zu der Segregation der Verbnutzung zwischen Tieren und Menschen, verändert sich auch die Nutzung von Diminutiven.

Im 19. Jahrhundert wurden die Worte „Weiblein“ für Tiere und „Weibchen“ für verheiratete Frauen in den vertraulichen Sprecharten üblich. Das Wort „Männchen“ wurde seit dem 15. Jahrhundert zunächst pejorativ für kleine Männer, Zwerge oder Schwächlinge verwendet.  Seit dem 17. Jahrhundert findet man sie Ausdrucksform verstärkt auch für Tiere.

Heute wird „Weibchen“ exklusiv für Tiere und „Männchen“ präferenziell für Tiere verwendet. Obwohl Tiere größer und stärker als Menschen sein können, geraten sie sprachlich in den (subordinierenden) Diminutiv und ins (objektifizierende) Neutrum.

Nutztierbezeichnungen verteilen sich sexuskonform auf Feminina und Maskulina - solange sie leben (wie die Kuh, der Stier, die Sau, der Eber, die Henne, der Hahn). Getötet und als Nahrungsmittel verarbeitet werden sie dem Neutrum zugeordnet. Es fällt auf, dass die Tiere, die wir essen – bis auf wenige Ausnahmen – auf einer sprachlichen Ebene entpersonalisiert und entsexualisiert werden. Diese Neutralisierung wird als Distanzierungs- bzw. Degradierungsstrategie gedeutet.

Der zweite Teil des Vortrags handelte von der gegenwartssprachlichen Humanisierung von Haustieren über sprachliche Annährungen des Tiers an den Menschen. Es wird sich zuerst mit folgender Frage befasst: Wie gerät die Tier-Mensch-Unterscheidung in die Grammatik? Die Wortbildung als Teil der Grammatik besteht aus Phonologie, Morphologie und Syntax. Es wurden drei Aspekte eines Wortbildungsphänomens in Betrachtung gezogen:

a)      zum Adjektiv tierlich: 

Es gibt heute viele Tierrechts-/schutz-Organisationen, die das Wort „tierlich“ anstelle von tierisch verwenden. „Man sagt doch auch menschlich und pflanzlich, nicht menschisch und pflanzisch. Entsprechend muss es heißen tierlich“ (Ema Graff Stiftung, Sprachregelung, Lexikon) oder „Das Wort tierlich ist nicht mehr allgemein gebräuchlich, wird aber manchmal statt tierisch verwendet, weil tierisch als abwertend empfunden wird“ (Wiktionary). Das Wort tierisch war seit Jahrhunderten die einzige Adjektivbildung für Tiere. Hierdurch wird deutlich, dass sich Menschen Gedanken zur eigenen Sprache machen, ihren Wortgebrauch ändern und in die Wortbildungsregeln des Deutschen eingreifen.

Grammatisch betrachtet, gibt es bestimmte Substantive, von denen man Adjektive ableiten kann, wie Mensch und menschlich. Hierfür wird -lich für positive und -isch für negative Adjektivbildung verwendet. Für manche Substantive wie Mensch oder Freund werden nur -lich, für manche wie Bauer können sowohl -ich als auch -isch verwendet werden.  Für Substantive wie Tiere oder den Teufel verwendet man -isch.  Ausnahmen sind die Fremdwörter wie studentisch, magisch, kommunistisch, die keine negative Bedeutungen haben.

b)      in-Movierung als zunehmend humanisierende Wortbildung: Die Beobachtung ist, dass im Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen mehr Tierweibchen über sog. in-Movierung (wie Adlerin, Arin, visentin) vorkommen. Aktuell werden in-Movierung hauptsächlich für Menschenverwendet (wie Ärztin, Raucherin, Veganerin) um den Abstand zu Tieren zu vergrößern. (Abb. 5). Im Prinzip sind alle Tiere movierbar, dennoch wird es nicht für alle Tiere genutzt. Die Tendenz geht dahin, dass je humaner ein Tier betrachtet wird, desto produktiver die in-Movierung genutzt wird. Vornehmlich für humanisierende Kontexte werden Emphatisierungen, wie beispielsweise eine Namengebung, möglich.


Abb. 5: in-Movierung als humanisierende Wortbildung.

c)      Menschenwelpen, der Mensch aus imaginierter Haustiersicht

Aus aktueller Forschung berichtet Prof. Nübling von der Bildung eines Korpus anhand Instagram-Profilen von Katzen und Hunden, welche ihre Besitzer angelegt haben. Diese berichten aus der Ich-Perspektive aus der Sicht der Haustiere, welche über das Leben ihrer menschlichen Tierhalter: innen berichten. Innerhalb dieser Fokussierung wird das Haustier oft als Kind und die Menschen als Elternteile dargestellt (Interspecies Family). Hierfür entwickelt sich eine eigene Sprache, die sich neuer Wörter bedient oder bestehende umdeutet. (Abb. 6)


Abb. 6: gegenwartssprachliche Humanisierung von Haustieren über sprachliche Annährungen des Tiers an den Menschen.

Am Ende des Vortrags gab es einen regen kollegialen Austausch und die Kolleg: innen haben sich geäußert, wie das Thema „Tier/Mensch-Unterscheidungen und -Überschneidungen in Lexikon und Grammatik“ in anderen Altsprachen vorkommt. Beispielweise gibt es im Griechischen nicht so umfangreiche Korpora, die sich so detailliert untersuchen lassen. Die Grenzziehungen zwischen Menschen und Tieren sind zwar interessant zu beobachten aber im Altgriechischen basiert dieses Thema auf grammatisch-logistischer Ebene und solche Feinheiten sind nicht präsent.

In altorientalischen Sprachen (Hetitisch und Sumerisch) ist die Differenzierung zwischen Mensch und Tier hingegen deutlich. In den meisten Fällen sind die Tiere Neutrum oder anonymisiert, es sei denn, sie haben übermenschliche Kräfte. In archäologischen Darstellungen werden solche „Tiere“ auch anders dargestellt, z.B. haben diese andere Hörner als das ursprüngliche Tier, werden unterschiedlich genannt oder haben bestimmte Namen. Allgemein betrachtet lässt sich feststellen, dass das Bedürfnis nach Unterscheidung zwischen Menschen und Tieren über mehrere Jahrtausende greifbar ist.


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