Das Tier oder die Tiere (in den griechischen Texten). Philosophisches Missverständnis über ein Konzept ohne richtige Einzahl
Ein Gastvortrag von Prof. Arnaud Zucker (Université Côte d’Azur, Nizza)
Ein Beitrag von Francisco José Gómez Blanco
Am Donnerstag, den 24. November 2022, war Prof. Arnaud Zucker, ein renommierter Altphilologe an der Universität Côte d’Azur in Nizza (Frankreich) zu Gast in Mainz. In seinem Vortrag setzte sich Prof. Zucker mit der Definition, Anwendung und Bedeutung der altgriechischen Begriffe „ζῷον“ („Zoion“, im Singular) und „ζῷα“ („Zoia“, im Plural) auseinander. Der Vortrag zeigte, dass sowohl „ζῷον“ als auch „ζῷα“ keine jeweils Singular- und Pluralform desselben Wortes waren, sondern verschiedene Begriffe, die unterschiedlich und als Ausdruck unterschiedlicher Konzepte verwendet wurden.
Das erste Problem, das Prof. Zucker vorstellte, bezieht sich auf die Schwierigkeiten einer Übersetzung des Wortes „ζῷον“. Traditionell wurde das altgriechische Wort mit dem Begriff „Tier“ gleichgesetzt, wie im sog. „Wörterbuch der Unübersetzbaren“ von B. Cassin (2014): Das Wort „ζῷον“ wird hier mit dem lateinischen Wort „animal“ gleichgestellt und im Deutschen als „Animal“, „Bestie“, „Tier“ und „animalisches Wesen“ übersetzt. Dennoch lässt sich das lateinische Wort „animal“ nicht ohne Weiteres mit den Wörtern „ζῷον“ und „ζῷα“ gleichsetzen. Ein weiteres Problem in Bezug auf die Beziehung zwischen Singular und Plural findet sich außerdem in unserer modern konstruierten, intellektuellen Denkweise, die gewöhnlicherweise den Ursprung von Begriffen auf ihre Singularform bezieht, wobei der Plural nur eine quantitative Erweiterung jener Begriffe darstellt. Prof. Zucker bezieht sich hierbei auf die Werke von Aristoteles, der das erste (erhaltene) Werk über Tiere verfasste. Diese geben Aufschluss über das Verhältnis zwischen „ζῷον“ und „ζῷα“.
Bei Aristoteles ist „ζῷα“ das entscheidende Konzept zur Erklärung von Realitäten und Phänomenen, wobei es allerdings nicht einfach als Plural von „ζῷον“ zu verstehen ist. „ζῷον“ wiederum ist kein Singular von „ζῷα“; vielmehr scheint es sich um die Singular- und Pluralform von zwei verschiedenen Konzepten zu handeln. Der Begriff „τὰ ζῷα“, der sich auf ein Kollektiv bezieht, scheint in gewissem Maße sowohl bereits vor der Singularform als auch getrennt davon zu existieren, während der Begriff „ζῷον“ im Singular nur als theoretischer und abstrakter Bezugspunkt zu verstehen ist. Mit der Pluralform „ζῷα“ bezeichnet Aristoteles in verschiedenen Abhandlungen alles, was als Tier bezeichnet werden kann, einschließlich den Menschen; während er mit „ζῷον“ alles, was lebt, sowie das gemeinsame Prinzip definiert, das Götter, Gestirne, Tiere (auch Menschen) und Pflanzen umfasst.
Die Disjunktion der Begriffe „ζῷον“ und „ζῷα“ kontextualisiert Prof. Zucker mithilfe des Konzepts der Physis (φύσις). Für Aristoteles hat das Konzept „Physis“ vier Bedeutungen, die er in seiner Metaphysik aufzählt: Es kann sich dabei erstens um die Entstehung dessen handeln, was von Natur aus wächst, zweitens um den ursprünglichen Bestandteil, aus dem das von Natur aus Wachsende wächst; drittens um den Ausgangspunkt, aus dem die erste Bewegung in den natürlichen Wesen entsteht; oder viertens um die Substanz der natürlichen Wesen, d. h. das Ergebnis des Entwicklungsprozesses, also die Produkte der Natur (wie Tiere), die von Natur aus „Seiend“ sind. Zusammenfassend aber beschränkt Prof. Zucker diese Definitionen auf „Materie“ und „Form“, wobei die Natur als „Anfangsursache der Bewegung oder als Endursache“ angesehen werden kann. Entscheidend erscheint in diesem Kontext, vielmehr als die Vielzahl an Definitionen des Konzepts „Physis“, das Interesse von Aristoteles an dieser Vielzahl an Definitionen. Zahlreiche Bedeutungen eines einzigen Worts verleiten dazu, die Annahme zu hinterfragen, dass ein Wort einem einzigen Konzept entspricht.
Diese Pluralität ist ebenfalls bei den Tieren („ζῷα“) zu finden. Sie stehen laut Prof. Zucker als natürliche Wesen auf der Seite der Vielfalt, ohne dass ihre Gemeinsamkeiten bedeutsam sind. Tiere werden nicht durch den Begriff „ζῷα“ definiert, sondern aus deren Wahrnehmung durch den Menschen. Aus diesem Grund listet Plato in seiner Untersuchung der Tiere alle Unterschiede auf, die man bei Tieren finden kann. Plato sucht dadurch nicht ein „ζῷον“ zu definieren, sondern die einzelnen, voneinander unterschiedlichen „ζῷα“.
Der Hypothese von Prof. Zucker nach ist „ζῷον“ als eine Art Singulativ zu verstehen, d. h. eine Singularform, die aus der Pluralform gebildet wurde. Er sieht es als relativ gewiss an, dass weder „ζῷον“ die Singularform von „ζῷα“, noch „ζῷα“ die Pluralform von „ζῷον“ ist. Viel bedeutender erscheinen die verschiedenen Verwendungen dieser Worte und nicht der Unterschied zwischen ihren Singular- und Pluralformen. Es ist bekannt, dass einige Pluralformen im Griechischen konkrete Bedeutungen haben, die von der Bedeutung der Singularform abweichen. „ζῷα“ sind also kein Teil vom „ζῷον“ und drücken das „ζῷον“ nicht aus. Sie stellen keine konkreten Realisierungen vom „ζῷον“ dar. Für Herrn Zucker handelt es sich letztendlich um die Verwendung zweier unterschiedlicher Konzepte.
Der Vortrag bezüglich der philosophischen Annäherung an die Konzepte „ζῷον“ und „ζῷα“von Herr Prof. Zucker fand im Rahmen unseres Graduiertenkollegs statt, obwohl, wie er selbst sagte, für ein endgültiges Ergebnis noch weitere Untersuchungen nötig sind. Wir bleiben also gespannt auf seine weitere Forschung zu einem solch interessanten Thema.
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