Ein Spaziergang durch den (Zauber-)Wald. Der Wald in der Ausstellung „BeZAUBERnde ORTE“

Ein Beitrag von Francisco José Gómez Blanco

Bereits in frühen Zeiten hat der Mensch gespürt, dass es sich beim Wald um viel mehr als um ein dunkelgrünes, schattiges Naturgebiet handelt – üppig in Leben und Ressourcen für den alltäglichen Bedarf, aber voller Gefahren und Geheimnisse. Die zuerst mündliche, später schriftliche Tradition hat uns ein Bild vom Wald aus der Vormoderne geliefert, das einen Ort zeigt, in dem der Mensch eine friedliche Verbindung mit dem Jenseits finden, sich aber auch unter dunklen Baumkronen verlaufen und bösen Gottheiten, Fabelwesen und Untieren begegnen kann oder sogar selbst zur Wildnis wird. In der, für den Sommer 2022 geplanten, Ausstellung „BeZAUBERnde ORTE“ streben wir danach, die Interpretation des Menschen von Naturorten wie Gewässern, Wüsten und Wäldern vorzustellen. Dafür stehen Mythen und Erzählungen im Vordergrund, die uns über jene Orte und deren zauberhafte Bewohnener berichten.

Wir wollen unsere Ausstellung „BeZAUBERnde ORTE“ mit dem Thema „Wald“ eröffnen. Der Wald wird dabei als ein ambivalenter Ort präsentiert, der eine Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation darstellt, in dem die Trennung zwischen Mensch und Tier teilweise aufgehoben ist. Gegensätzliche Elemente wie Harmonie und Chaos, Licht und Schatten, Geräusche und Stille sowie Elemente mit emotivem Bezug, die den Wald als Ort der Sehnsucht oder als furchterregenden Ort darstellen, weisen auf jene Ambivalenz hin, die dem Wald seit frühester Zeit gegeben wurde. Dafür wird die Ausstellung in dem Themenbereich in drei Stationen eingeteilt.

Abb. 1: Der Pfad führt in den Wald in der Nähe von Gütenbach (Schwarzwald). Foto: Francisco Gómez.

Station I bezieht sich auf Emotionen und Wertigkeiten, die der Wald selbst erzeugt und die den Wald als ambivalenten Ort darstellen. Hierbei geht es darum, wie der Wald durch das Sehen, Hören, Riechen und Fühlen wahrgenommen werden kann. Bäume bilden die knarrende Abgrenzung eines in Schatten verlaufenden Pfades (Abb. 1), während verschiedene Wald(fabel)wesen aus ihrem Versteck zwischen Wurzeln, hinter Steinen und unter dem Moos die Besuchenden betrachten. Neben den starrenden Augen dieser Kreaturen werden auch die Feuchtigkeit des grünen Bewuchses sowie die Geräusche des Holzes, des Windes in den Ästen und die der Nagetiere unter den gefallenen Blättern in allen Ecken zu spüren sein.

Der Pfad führt den Besuchenden zur Station II, die den Wald als zauberhaften Ort vorstellt: den Zauberwald. Die Wesen, die ihn bewohnen, und die Mythen und Märchen, die über fantastische Geschehnisse erzählen, sind hierbei Mittel dafür, die angesprochenen Ambivalenz und Liminalität des Waldes deutlich zu zeigen. Zu den Bewohnern des Zauberwaldes zählen Gottheiten und Geister, die dort ihre Kultstätte haben, wie die Göttin Artemis oder die frechen Satyrn der griechischen Mythologie; fantastische Tiere, wie das Einhorn, aber auch zahlreiche andere Tiere und Untiere, die den Helden in den Mythen als Beute dienen. Diese letzten, monströsen Bestien verwüsteten Städte und deren Umgebung, bis ein oder mehrere Helden zu einer Jagd nach ihnen aufbrachen, letztendlich das Tier erlegten und somit die Welt von jener Gefahr befreiten und den Wald wieder zu einem sicheren Ort machten. Einem solchen Ereignis begegnen wir in der griechischen Mythologie in Gestalt der Jagd auf den Kalydonischen Eber (Abb. 2). Als Strafe der Götter wurde die Stadt Kalydon von einem Rieseneber bedroht. Zahlreiche Krieger und Jäger aus anderen Ortschaften versammelten sich dort, um die Stadt von dem Ungeheuer zu befreien, und zogen dafür in den Wald, wo Meleager und Atalante das Tier erlegten und später (jedoch mit dramatischen Konsequenzen) als ehrenvolle Helden der Stadt anerkannt wurden. Neben fantastischen Wesen, die den Wald bewohnen, und adeligen Persönlichkeiten, die dort Ruhm erlangen, erzählen Mythen und Märchen auch über andere Bewohner des dunkelgrünen Forsts, die niedriger Herkunft waren und armen Schichten der Gesellschaft zugehörten: Ausgestoßene und Arme nennen den Wald ihr Zuhause, Banditen finden dort ihr Versteck. Nicht selten sind die Familien in den Märchen der Brüder Grimm die Ärmsten aller Armen und müssen ihre Kinder aus diesem Grunde im tiefen Wald aussetzen. Der Wald bildet somit eine Grenze, nicht nur zwischen Fantastischem und Realem, sondern auch zwischen Heroen und Außenseitern.


Abb. 2: Siana-Schale, ca. 560 v. Chr. Antikensammlung der Universität Mainz, Inv. 72. Foto: Angelika Schurzig.

Zuletzt kommen die Besuchenden an die Station III. Hier geht es um die religiöse und soziale Bedeutung, die der Wald für den Menschen in der Vormoderne hatte sowie die damit verbundenen Praktiken. Die Gewinnung von natürlichen Ressourcen, wie das Holzfällen und das Jagen, mögen zunächst als pragmatische, profane Praktiken erscheinen, stehen jedoch eng in Verbindung mit der religiösen Bedeutung des Waldes. Denn die Gottheiten und andere Wesen, die im Wald wohnen, müssen zuerst den Menschen segnen, können ihn aber auch bestrafen, wenn der Mensch die göttliche Regelung im Walde nicht respektiert. Der Wald steht somit nochmals für die Grenze zwischen Menschen- und Götterwelten, wobei der heilige Hain als Treffpunkt zwischen beiden dient. Dort kann der Mensch Rituale ausführen, die die zornige Gottheit zu besänftigen suchen, jedoch kann der Mensch dort auch selbst von der Gottheit beeinflusst werden, wie zum Beispiel im Fall der Mänaden: Frauen, die im Rahmen des Dionysos-Kultes in orgiastischen Wahnsinn getrieben wurden und in die Wildnis zogen (Abb. 3), oder der Ritter Iwein, der, nach dem mittelalterlichen Roman, ebenfalls von Wahnsinn getrieben in den Wald zog und, sich die Kleider vom Leibe reißend, dort wie ein „wilder Mann“ lebte. Dadurch wird klar, dass der Wald als ein Ort der Transformation zu verstehen ist.


Abb. 3: Pentheus wird von Mänaden getötet. Wandmalerei von Casa dei Vettii (Pompeji, VI 15, 1). Foto: Wikipedia.

Ziel der Ausstellung ist es, die unterschiedlichen Konzepte von Wald aus der Vormoderne zusammenzubringen und den Besuchenden einen Eindruck davon zu geben, wie der Wald in früheren Zeiten wahrgenommen wurde. Der Charakter des Waldes als ambivalenter Ort der Transformation und als Grenze wird einerseits durch auserwählte Exponate vermittelt, die auf bestimmte Aspekte, Details und Persönlichkeiten aus Erzählungen zum Wald Bezug nehmen, andererseits durch die gesamte Atmosphäre vom geheimnisvollen Wald, die die Raumgestaltung selbst liefert.

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