An den Rändern der Wunde. Griechisch-römische Figurationen von Versehrtheit zwischen medizinischem und literarästhetischem Diskurs. Plenumsvortrag von Christoph Appel

Ein Beitrag von Jessica Knebel.

In der letzten virtuellen Plenumssitzung des GRKs im Sommersemester 2020 gewährte uns Christoph Appel, seit Oktober 2019 Doktorand in der Klassischen Philologie, einen Einblick in sein Dissertationsprojekt „An den Rändern der Wunde. Griechisch-römische Figurationen von Versehrtheit zwischen medizinischem und literarästhetischem Diskurs“.

Zunächst stimmten einige antike Darstellungen zur Wundbehandlung das versammelte Plenum auf den Vortrag ein. So illustrierte ein Fresko aus Pompeji, wie der Arzt Iapyx eine Pfeilwunde am Bein des Aeneas versorgt (Abb. 1).

 

Abb. 1: Iapyx versorgt die Pfeilwunde des Aeneas, Fresko aus der Casa di Sirico, Pompeji.
Museo Archeologico Nazionale, Neapel.


Im Mittelpunkt des Projekts von Christoph stehen Figurationen des versehrten und verwundeten Körpers in der griechischen und lateinischen Literatur. Das Textkorpus erstreckt sich über einen Zeitraum von 800 v. bis 100 n. Chr. und umfasst Dichtung (Epos, Lehrdichtung, Drama, andere dichterische Formen), Prosa (Historiographie, Philosophie), medizinische Fachschriftstellerei (z. B. Corpus Hippocraticum) und antike Metatexte (z. B. Kommentare oder Glossierungen). Um sowohl semiotisch-semantische als auch diskursiv geformte Konzepte des versehrten Körpers zu erschließen, werden mehrere Methoden kombiniert: Zum Einsatz kommen die historische Semantik, die historische Diskursanalyse und die Narratologie.

Ein Überblick über die Forschungsgeschichte zeigte, dass sich ältere Arbeiten besonders auf die Anatomie des verwundeten Körpers in Kriegsdarstellungen konzentrierten (siehe u. a. Malgaigne 1842; Friedrich 1956). Im Zuge des „body turn“ erfolgte eine zunehmende Historisierung des Körperbegriffs, der Forschungsschwerpunkt verlagerte sich zunächst auf den gesunden und kranken Körper (siehe u. a. King 2005; Garrison 2010). Erst die rezentere Forschung beschäftigte sich wieder stärker mit dem versehrten Körper, mit einem merklichen Schwerpunkt auf Gewaltphänomenen und ihrer Ästhetik (siehe u. a. Gale/Scourfield 2018; Dinter 2019). Da Darstellungen von Wunden und Versehrtheit in ihrer Multiperspektivität in der altphilologischen Forschung bisher tendenziell vernachlässigt wurden, rückt Christoph verschiedene Figurationen des versehrten Körpers in den Fokus seines Projekts. In diesem betrachtet er Versehrtheit als kulturelles Konzept und vereint kulturhistorische mit medizinhistorischen Ansätzen.

Im zweiten Teil seines Vortrags präsentierte Christoph anhand zahlreicher Textbeispiele erste Ergebnisse seiner Arbeit und machte deutlich, dass der Wundbegriff im Griechischen und Lateinischen auch dann gebraucht wird, wenn es sich nicht um unmittelbar körperliche Phänomene handelt. So erscheinen metaphorisch gebrauchte Verwundungsausdrücke etwa im Zusammenhang mit der Wirkung des Weines, der den Trinkenden regelrecht sticht (Hom. Od. 21,293–294), oder der Liebe, der eine verwundende Kraft zugeschrieben wird (Enn. fr. 89,9).

 

Abb. 2: Die Wiedererkennung (Anagnorisis) des Odysseus, Skyphos, ca. 440 v.Chr.
Chiusi (Italien), Museo Archeologico Nazionale.



Die nächsten Fallbeispiele wandten sich dem Körper als Zeichenträger und der Wunde als Zeichen zu. Wunden und Narben stellen zeichenhafte Phänomene dar, die mittelbar auf die Entstehung der Wunde hinweisen. Gleiches gilt für die Transformation der Wunde: Eine Narbe zu haben, heißt, es hat eine Wunde gegeben. In diesem Sinne können Wunden und Narben als Formen körperlicher memoria angesehen werden. Dies illustrierte Christoph an einem Beispiel aus der Odyssee (Hom. Od. 19,386–396). In der genannten Textpassage wäscht Odysseus’ Amme den Körper des Protagonisten und erkennt erst anhand einer Narbe, dass es sich um ihn handelt (Abb. 2). Die Narbe, die ihm einst ein Eber zuführte, wird zum identitätsstiftenden Zeichen von Odysseus. Einem anderen Textbeleg ist der Verweis auf heroische Narben zu entnehmen. Dies veranschaulicht unter anderem die Rede des Gaius Marius, in welcher Narben mit Ahnenbildern gleichgesetzt werden, die durch Mühen und Gefahren erworben wurden (Sall. Iug. 85,29–30).

Der Projektvorstellung von Christoph folgte eine lebhafte Diskussion mit vielen Fragen und Anregungen. Zum Beispiel wurde angeregt, Darstellungen von Wunden und Versehrtheit zu berücksichtigen, um Bild- und Textmedien miteinander zu vergleichen. Ebenfalls wurde diskutiert, ob die Wunde über den Tod hinaus (z. B. Verstümmelung von Leichnamen) Bestandteil des Dissertationsprojekts sein wird. Insgesamt ist das Projekt interdisziplinär sehr fruchtbar und ermöglicht es somit Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen festzustellen.

 

Literaturhinweise:

M. T. Dinter, Death, Wounds and Violence in Ancient Epic, in: C Reitz/S. Finkmann (Hrsg.), Structures of Epic Poetry II, Berlin/Boston 2019, 447–481.

W.-H. Friedrich, Verwundung und Tod in der Ilias, Göttingen 1956.

M. R. Gale/J. H. D. Scourfield (Hrsg.), Texts and Violence in the Roman World, Cambridge 2018.

D. H. Garrison (Hrsg.), A Cultural History of the Human Body in Antiquity, Oxford/New York 2010.

H. King (Hrsg.), Health in Antiquity, London/New York 2005.

J.F. Malgaigne, Études sur l’anatomie et la physiologie d’Homère, Paris 1842.

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