Natur und Nacht: Räume und Zeiten des Rückzugs und der Reflexion. Tandemvortrag von Marie-Charlotte von Lehsten und Mirna Kjorveziroska

Ein Beitrag von Sandra Hofert.

Die Nacht als eine Zeit, in der andere Regeln gelten als am Tag, eine Zeit, in der abseits des täglichen Geschehens Ruhe und Reflexion möglich werden, in der sich der Mensch zurückgeworfen auf sich selbst mit seinem Inneren auseinandersetzen kann oder in der er, losgelöst von den Blicken der Gesellschaft, von seinem Inneren überwältigt wird; eine Zeit des träumenden Schlafens oder des wachenden Grübelns, des erholsamen Rückzugs oder der hilflosen Überwältigung.

Wie diese zeitliche Kategorie der Nacht gibt es auch topologische Größen, die ähnliche Prozesse bewirken können: Eine Höhle beispielswiese bietet einen Raum, der einen zeitunabhängigen Rückzug vom äußeren Geschehen ermöglicht; sie kann einen Raum der Einsamkeit und Reflexion bieten, sie kann aber auch zwei illegitimen Liebenden eine heimliche Vereinigung im Schutz der Dunkelheit ermöglichen.

Auch das Natur-Arrangement des locus amoenus stellt einen Eigenraum mit spezifischen Gesetzen dar und kann zwei Liebenden die Vereinigung abseits der Gesellschaft erlauben. Ein zentrales Element dieses literarischen Topos ist der Baum: Er definiert den Raum in der Vertikalen (womit er das Komplement zum ebenfalls für einen solchen lieblichen Ort essentiellen horizontalen Wasserfluss darstellt) und er spendet mit seiner Baumkrone einen angenehmen Ruheplatz, geschützt vor der Sonne.

Doch ein Baum mit seiner vertikalen Ausrichtung verkörpert gleichzeitig die Option des Aufstiegs in die Baumkrone und damit die Möglichkeit, sich den Raum auf eine andere Weise anzueignen (Abb. 1). Die erhöhte Position im Baum lässt eine andere Perspektive zu, ermöglicht Distanz zum Geschehen, kann einen Raum der Reflexion darstellen, Übersicht bringen und Erkenntnis fördern.
Abb. 1: Das heimliche Treffen der Liebenden Tristan und Isolde wird von König Marke, dem Ehemann Isoldes, aus seinem Versteck in der Baumkrone heraus beobachtet und damit aufgedeckt.
Quelle: Musée du Louvre, Département des Arts décoratifs, Nr. OA 10958.


Sowohl räumliche als auch zeitliche Kategorien werden in der Literatur fruchtbar gemacht, um bestimmte Aspekte zu markieren, Deutungen zu evozieren und Szenen zu akzentuieren. Wie dies in der vormodernen Literatur funktionieren kann, haben Marie-Charlotte von Lehsten und Mirna Kjorveziroska in ihrem Vortrag „Natur und Nacht: Räume und Zeiten des Rückzugs und der Reflexion“, den sie am 6. Juni 2019 im Rahmen der Plenumssitzung des GRK 1876 gehalten haben, exemplarisch beleuchtet. Im Zentrum ihrer Überlegungen standen die Nacht als zeitliche Kategorie und der Naturraum als topologisches Konstrukt.

Wie sie anhand verschiedener Beispiele aus der griechischen Antike und der mittelhochdeutschen Literatur zeigen konnten, lassen sich bei der literarischen Konstruktion der Nacht-Zeit einerseits und des Natur-Raums (Abb. 2) andererseits zahlreiche Parallelen erkennen: In der Nacht als Zeit der Ungestörtheit und Abgeschlossenheit kommen Figuren zu Entscheidungen, so beispielsweise beschrieben in der Ilias, wo Zeus – ungestört von seiner Ehefrau Hera – einen Plan entwirft, wie Achilles geehrt und viele Griechen vernichtet werden können [vgl. Ilias, 2,1–5] – ein Plan, der letztendlich zu einem Auslöser für einen Großteil der Ilias-Handlung wird.

Und auch Naturräume können in der Literatur funktionalisiert werden, um Figuren eine bestimmte Entscheidungsfindung zu ermöglichen, so beispielsweise in Veit Warbecks Die schöne Magelone, in der Magelone auf einen Baum klettert und den Entschluss fasst, ihren Geliebten zu suchen [vgl. Magelone: Ausgabe Müller (1990), S. 651].


Abb. 2: Natur und Nacht – Raum und Zeit.
Quelle: Foto von Edmundo Sáez.


Statt Reflexion und Entscheidungsfindung können Nacht und Naturraum auch Emotionen potenzieren: Abseits der Kanalisierungsmöglichkeiten durch Handlungsmuster am Tag können in der Nacht Emotionen die am Tag vorgegebenen regelkanonischen Formen überschreiten und eskalieren, so beispielsweise bei der Trauer des Achilles um Patroklos [vgl. Ilias, 24,2–12].

Eskalieren kann die Trauer auch in bestimmten Naturräumen, so beispielsweise in Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur, in der Partonopier abseits der höfischen Gesellschaft in einer Baumhöhle nicht nur seine Rolle als adliger Ritter aufgibt, sondern in exzessiver Trauer sogar die Grenze zum Animalischen überschreitet.

An diesen und zahlreichen weiteren Beispielen haben Mirna Kjorveziroska und Marie-Charlotte von Lehsten gezeigt, wie sich in literarischen Texten Konzepte von Reflexion und Emotionalität in unterschiedlichen Raum-Zeit-Konstellationen manifestieren können und Situationen markieren, die auch für den Rezipienten das Hinterfragen literarischer Konstruktionen ermöglichen, ein Mitfühlen mit den Figuren intensivieren und zentrale Momente der Interpretation darstellen können.


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