Forschungskolloquium "Methodologische Überlegungen zu frühen Konzepten von Mensch und Natur", 13. November 2015

Ein Beitrag von Victoria Altmann-Wendling und Simone Gerhards.

Das diesjährige Forschungskolloquium „Methodologische Überlegungen zu frühen Konzepten von Mensch und Natur“ des Forschungsschwerpunkts
Historische Kulturwissenschaften (HKW) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz wurde vom GRK 1876 gestaltet. Da sowohl unser Graduiertenkolleg als auch der Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften die Bedeutung von Methodik und Theorie für die inter- und transdisziplinäre Forschung betonen, bot sich ein gemeinsames, methodisch ausgerichtetes Forschungskolloquium an. Dieses diente aber nicht nur der Reflexion methodologischer Fragestellungen, sondern besonders auch der Vernetzung historisch-kulturwissenschaftlicher Nachwuchswissenschaftler.
 

Alles im Rahmen – Frames als Konstrukte zur Wissensrepräsentation


Prof. Dr. Dietrich Busse (Düsseldorf) eröffnete das Programm mit seinem Vortrag  "Frames als Modell zur Analyse und Beschreibung von Konzepten, Konzeptstrukturen, Konzeptwandel und Konzepthierarchien". Busse, Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Düsseldorf, forscht zu dem sogenannten Frame-Modell. Dabei handelt es sich um eine Neuentwicklung in der Sprachtheorie, die in den letzten Jahrzehnten zu einem Bindeglied zwischen Linguistik, Kognitionspsychologie, allgemeiner Kognitionswissenschaft und KI-Forschung geworden ist. Charles J. Fillmore, der Begründer der linguistischen Frame-Semantik, stieß mit seinen Überlegungen, welche weiteren Aspekte lexikalischer Bedeutung eines Wortes existieren und warum, den methodologischen Stein ins Rollen. Die Frame-Semantik fragt, laut Busse, zum ersten Mal explizit und gezielt nach der Funktion, der Art und dem Umfang des relevanten Wissens für das Verstehen eines sprachlichen Ausdrucks (z. B. eines Wortes oder Satzes). Dieses Wissen ist laut dem Modell in sogenannten Frames organisiert, welche die mentale Repräsentation eines stereotypischen Konzepts eines bestimmten Aspekts beinhalten. Dadurch ist ein Frame eine Abstraktion einer wiederholten Erfahrung mit realen Situationen. Die einzelnen Elemente eines Frames können nur durch eine Beziehung zueinander definiert werden. Das bedeutet, dass jeder sprachliche Ausdruck (mindestens) einen Frame aktiviert und in Bezug zu diesem steht. Busse selbst forscht momentan unter anderem im Bereich der juristischen Semantik. (S.G.)


Emisch und Etisch als Forschungsperspektive


Das sich an den Vortrag anschließende Panel der vier Kollegiaten des Graduiertenkollegs 1876 Dominik Berrens, Sonja Gerke, Simone Gerhards und Katharina Hillenbrand diskutierte unterschiedliche Zugänge zum Konzept der emischen und etischen Sichtweise anhand von Beispielen aus den Fachdisziplinen Klassische Philologie und Ägyptologie. Die Begriffe stammen aus der Linguistik bzw. der Anthropologie und bezeichnen einerseits die Sicht des Forschers von außen (etisch), andererseits die Sicht aus dem Inneren (emisch), die in ethnographischen Untersuchungen durch Befragung der Bevölkerung erreicht wird. Da im Graduiertenkolleg 1876 die frühen Konzepte von Mensch und Natur herausgearbeitet werden, ist es besonders wichtig, die kulturimmanenten Eigenheiten zu erkennen und nicht durch heutige (naturwissenschaftliche) Erkenntnisse und Ansichten zu überprägen. Zweifellos kann dies nicht immer gelingen, da jeder Forscher in seiner eigenen Kultur und seinem Wissenshorizont verankert ist. Zumindest sollte man sich dieses Problems jedoch bewusst sein und insbesondere bei Übersetzungen stets überlegen, ob den gewählten Begriffen nicht bereits eine Interpretation innewohnt und wie man diese umgehen kann.

"Das nächste Fremde"

 
Dominik Berrens sprach zunächst über "'Das nächste Fremde' – Chances and Challenges in applying emic and etic perspectives to Classical texts". Er wies darauf hin, dass die in der Ethnologie übliche Befragung des untersuchten Volkes bei der Erforschung antiker Kulturen nicht möglich ist. Somit können Fehler, die bei der Interpretation von Texten, aber auch Funden und Befunden geschehen, auf diesem Wege nicht korrigiert werden. Zudem sind die auf uns gekommenen Texte eventuell (sogar sehr wahrscheinlich!) tendenziös, häufig in hohem Maße artifiziell und zumeist nicht repräsentativ für die gesamte Gesellschaft.
Nebenbei: Beides gilt selbstverständlich auch für archäologische Quellen, da sie oftmals nur einem kleinen, hochstehenden Teil der Bevölkerung zuzusprechen sind und oftmals eine bewusste Auswahl darstellen. So zeigen Begräbnis und das Beigabeninventar mitunter stärker den Status des Bestattenden als den des Bestatteten an (Fn. 1).
Berrens bezog sich auf die Bezeichnung der Klassischen Antike als dem "nächsten Fremden" (Uvo Hölscher), die als Vorläufer unserer eigenen Kultur angesehen wird. Somit besteht die Gefahr, vieles, was sich in den antiken Texten findet, mit heutigen Auffassungen gleichzusetzen. Auch lateinische oder griechische Wörter, die heute als Fremdwörter oder taxonomische Fachtermini erscheinen, dürfen nicht a priori mit derselben Übersetzung und dem darin innewohnenden Konzept parallelisiert werden. Als ein Beispiel führte Berrens eine Stelle aus Theophrast über die „Eier“ der Ameise an. Bei diesen handelt es sich wahrscheinlich um die Puppen, nicht die tatsächlichen Eier, die mikroskopisch klein sind. Diese aus heutiger biologischer Erkenntnis falsche Aussage kann jedoch kulturimmanent erklärt werden, wenn man Aristoteles‘ Ausführungen über die Nachkommen der Insekten in zwei Stadien zu Rate zieht.
 

Vulkan oder Werk?

 
Ebenfalls für das Feld der Klassischen Philologie, allerdings für die Latinistik, sprach Katharina Hillenbrand mit dem Vortrag "Missing concepts and wrong thoughts? Examples for emic and etic perspectives on Classical texts". Sie wies darauf hin, dass die Antike nicht nur als Vorläufer, sondern auch als Ideal angesehen wurde (vgl. die Aussage Winckelmanns: "edle Einfalt und stille Größe"). Daher würden abweichende Konzepte oft übersehen oder an moderne Ideen angepasst. Dies geschieht schon in Übersetzungen, da Formulierungen gefunden werden müssen, die für die Zielsprache verständlich sind. Dabei fließen bisweilen bereits Deutungen aus heutiger Sicht ein. Da dies oftmals ungekennzeichnet geschieht, kann es in der Folge zu Fehlinterpretationen kommen, wenn, etwa von Fachfremden, ausschließlich die moderne Übersetzung verwendet wird. Auch werden vermeintliche inhaltliche Fehler korrigiert, da sie nicht dem Bild der idealen Antike entsprechen. Dies nivelliert die kulturellen Unterschiede und schmälert den Erkenntnisgewinn. Diese Probleme zeigte Hillenbrand anhand einiger Beispiele aus dem Ätna-Gedicht auf. Ganz zentral ist dabei natürlich die Frage, ob dem Begriff volcanus dieselbe Bedeutung innewohnt wie dem heutigen "Vulkan". Auch das Wort opus, das für den Berg auftritt, besitzt ein großes Bedeutungsspektrum und Ambiguität, dem eine Übertragung als "vulkanische Tätigkeit", wie in älteren Übersetzungen geschehen, nicht gerecht wird. Eine wörtlichere, weniger spezifische Übersetzung wird von Hillenbrand daher favorisiert.
 

Bellende Hunde und heilige Zeichen

 
Sonja Gerke stellte unter dem Titel "Of Barking Gods and Sacred Signs – Challenges in applying emic and etic perspectives on Egyptian sources" zunächst eine kurze Forschungsgeschichte der Ägyptologie vor. Dies war notwendig, um aufzuzeigen, dass anders als für Latein und Griechisch die altägyptische Sprache erst mühsam wieder entschlüsselt werden musste, bevor die (zahlreich und in großer Varietät erhaltenen) Schriftquellen für Interpretationen zur Verfügung standen. Selbst heute können Textpassagen, die grammatisch und lexikalisch klar sind, inhaltlich nur mit großer Mühe und zahlreichen Vergleichsstellen gedeutet und verstanden werden, wie Gerke an einem Beispiel aus einem Mondtext erläuterte. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die ägyptische Kultur vollständig untergegangen ist und somit keine kontinuierliche Tradition bis zum heutigen Tag vorlag, wenngleich Ägypten zum Beispiel durch die Bibel stets eine Rolle in der christlich-jüdisch geprägten Kultur gespielt hat. Erst die Etablierung als akademisches Fach erbrachte den Wandel vom "erinnerten Ägypten" zum "wiederentdeckten Ägypten", wie es Jan Assmann formulierte (Fn. 2). Zwar sollte es die offensichtliche Fremdheit der altägyptischen Kultur für uns erleichtern, Abstand zu wahren und keine modernen Einsichten in Übersetzungen und Interpretationen hineinzulegen, doch ist dies vielfach nicht möglich und geschieht unbewusst, wie eingangs bereits erwähnt. 

Korb oder Blackbox?


Den Abschluss bildete Simone Gerhards, ebenfalls Ägyptologin, mit dem Thema "Becoming an insider? – Examples for emic and etic reconstructions of Ancient Egyptian concepts". Sie zeigte anhand mehrerer Wörter ("Magie" sowie die für das alte Ägypten so zentrale "Religion"), wie problematisch die Verwendung solcher bedeutungsbeladenen Begriffe ist, wenn man vermeiden will, den antiken Texten heutige Konzepte und Auffassungen zuzusprechen. Einer Arbeit von Martin Fitzenreiter folgend stellte sie zudem anstelle von "etisch“ und "emisch" die Begriffe "konstruieren" und "rekonstruieren" vor (Fn. 3). Die schwierige Frage, ob eine emische Sicht überhaupt möglich sei, beantwortet Gerhards mit zwei Metaphern: Der Korb für die etische Sicht, bei dem nur vorher erwartete Dinge (Texte, Aussagen) gesammelt und kategorisiert werden; und der Blackbox für die emische Sichtweise, in die in einer Untersuchung ohne Erwartungen ein größeres Spektrum einfließt, ehe daraus ein Konzept oder eine Kategorie herausgearbeitet wird. Dies gilt insbesondere für die Zuordnung der Texte in bestimmte Gattungen, die sich an heutigen Definitionen orientiert, im alten Ägypten jedoch in den wenigsten Fällen mit einer eigenen Bezeichnung existiert. Allerdings kann diese Ordnung als hermeneutisches Mittel durchaus angebracht sein; man sollte jedoch offen für eine Verschiebung oder Ausweitung der gesetzten Grenzen sein. Am Beispiel des ägyptischen Begriffs für "Traum" zeigte Gerhards nochmals auf, welchen Informationsverlust man bei der bloßen Übertragung in die heutige Sprache zu beklagen hat.
In einer abschließenden Zusammenfassung wies Sonja Gerke nochmals darauf hin, dass eine rein emische Sichtweise in altertumskundlichen Fächern wohl niemals erreicht werden kann, da das Korrektiv der Befragung der antiken Kultur ausfalle. Stattdessen sprechen sich die Kollegiaten des Panels für den Begriff "kultursensibel" aus. (V. A.-W.)


Fußnoten:
[1] z. B. Eggert, Manfred K. H., Prähistorische Archäologie. Konzepte und Methoden, Tübingen/Basel 2001, 104.
[2] Assmann, Jan, Erinnertes Ägypten: pharaonische Motive in der europäischen Religions- und Geistesgeschichte, Berlin 2006.
[3] Fitzenreiter, Martin, Europäische Konstruktionen Altägyptens – Der Fall Ägyptologie, in: Glück, Thomas/Morenz, Ludwig (Eds.), Exotisch, Weisheitlich und Uralt. Europäische Konstruktionen Altägyptens, Hamburg 2007, 323–351.
 

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