"Der Esel als Reflexionsfigur" ‒ Workshop zu Mensch-Tier-Beziehungen in der mittelalterlichen Literatur

Ein Beitrag von Stephanie Mühlenfeld. 

Am 14. Juli 2015 trafen sich an der Universität Kassel acht Mediävisten, um über den Esel als "Reflexionsfigur" in der mittelalterlichen Literatur zu diskutieren. Initiiert wurde der Workshop von der Tier-Mensch-Gesellschaft des Kasseler LOEWE-Schwerpunkts, deren wissenschaftliches Anliegen "die interdisziplinäre Untersuchung von Mensch-Tier-Beziehungen in Geschichte und Gesellschaft unter dem Leitbegriff der Relationalität" ist (Fn. 1). Die Thematik schließt "das Zusammenleben von Menschen und Tieren in Akteursgemeinschaften" mit ein und beleuchtet daher zahlreiche Praktiken (Fn. 2).
 
Der Schwerpunkt ist in die vier Projektbereiche "Unterscheidung und Hierarchisierung", "Annäherung und Vermittlung", "Erfassung und Repräsentation" sowie "Kognition und Emotion" gegliedert und weist damit sehr große Schnittmengen zu den Themengebieten auf, die innerhalb des Mainzer Graduiertenkollegs im Fokus des Interesses stehen (Fn. 3).
 
Als Teilnehmer aus dem Projektbereich "Erfassung und Repräsentation" waren Prof. Dr. MICHAEL MECKLENBURG, Prof. Dr. CLAUDIA BRINKER-VON DER HEYDE, Dr. SUSANNE SCHUL und ANNA-THERESA KÖLCZER zugegen. Des Weiteren nahmen JProf. Dr. JULIA WEITBRECHT und die beiden DoktorandInnen HANNAH RIEGER und RENKE KRUSE vom Germanistischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel teil. Durch die Teilnahme STEPHANIE MÜHLENFELDS war außerdem auch das Mainzer Graduiertenkolleg 1876 "Frühe Konzepte von Mensch und Natur" vertreten.
 
Das Zusammentreffen verfolgte neben einer lebhaften und aufschlussreichen Diskussion das Ziel, erste Kontakte zu den Wissenschaftlern zu knüpfen, die im kommenden Jahr, vom 3. bis 4. März 2016, an dem großen Kasseler Workshop Die Sicht des Tieres. Reflexionen von Tier-Mensch-Beziehungen in mittelalterlichen Texten teilnehmen werden. Dieser größer angelegte Mediävistik-Workshop wird ebenfalls in Kooperation des interdisziplinären LOEWE-Schwerpunkts und des Germanistischen Seminars der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel stattfinden.
 

Der Esel in malam et bonam partem

 
Als Textgrundlage für die Diskussion dienten Rutebeufs Fabliau Das Testament eines Esels, Der Pfaffe Amis des Strickers und die Ausführungen zum Esel im Buch der Natur Konrads von Megenberg (Fn. 4). Darüber hinaus wurden die beiden Forschungsansätze UDO FRIEDRICHS sowie SUSAN PEARSONS und MARY WEISMANTELS aufgegriffen, thematisiert und zum Teil in Frage gestellt (Fn. 5). Eine der Grundannahmen war dabei, dass die semantischen Eigenschaften des Esels in der mittelalterlichen Literatur sehr ambivalent sind und abhängig von dem jeweiligen Kontext und Deutungshorizont "in malam et bonam partem" ausgelegt werden können (Fn. 6).
 
Die Eselbeschreibung im Buch der Natur Konrads von Megenberg kann als anschaulicher Beleg für diese These betrachtet werden. So weiß Konrad einerseits sehr Positives vom Esel zu berichten, nämlich dass er äußerst friedfertig sei ‒ selbst wenn man ihm harte Schläge beibringe (Daz tier waiz niht chriegs, wann ez gar frid_am i_t: Vnder herten _traichen i_t ez _(nftig und gΦtig) (Fn. 7). Außerdem diene das Tier dazu, schwere Lasten zu tragen (Ez tregt _w(r pΦrd auf im) (Fn. 8). Andererseits hebt der mittelalterliche Naturkundige als negative Eigenschaft hervor, der Esel trage das Laster der sexuellen Triebhaftigkeit mit sich, denn er sei ‒ so drückt es Konrad aus ‒ vnchaΦ_ch (Fn. 9).
 
Dieses Laster der 'Unkeuschheit' lasse sich auch am Körperbau des Tieres erkennen, denn seine vordere Rückenpartie, auf der es ein Kreuz trage, sei äußerst schwach. Die hintere Körperhälfte hingegen ‒ die wohl in erster Linie mit dem Sitz der Geschlechtsorgane assoziiert wird ‒ sei sehr stark (Ich _prich auch, daz der e_el vorn, da er chrank i_t, ein chr(utz tregt auf dem ruck vnd hinten, da er die niern tregt, da ist er _tarch) (Fn. 10). Diese körperliche Beschaffenheit wird daraufhin in eine Analogie gesetzt zu dem Stand der Geistlichkeit, denn auch die Kleriker ‒ so Konrad ‒ zeigten sich, wenn sie ein Kreuz tragen, beten oder fasten sollten, schwach. Wenn es allerdings darum gehe, der sexuellen Triebhaftigkeit Freiraum zu gewähren, seien sie stark (Also tů wir Mppigen pfaffen: Da wir daz chr(utz _chΦllen tragen mit va_ten vnd mit beten vnd mit allem g=tleichem dien_t, da _ei wir laider chranch; aber da wir vnch(u_ch vnd all vnfůr tragen, da _ei wir _tarch) (Fn. 11).
 
Cod. Pal. germ. 300. Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Hagenau - Werkstatt Diebold Lauber, um 1442-1448?; Seite: 84r (Fn. 12).

Die Analogie zwischen Esel und Pfaffe, die Konrad hier entwirft, scheint ‒ wenn auch in stark veränderter Weise ‒ in anderen literarischen Werken des Mittelalters als eine Art kulturhistorischer Subtext anzuklingen. Beispiele hierfür sind in dem Fabliau Das Testament eines Esels von Rutebeuf sowie in Der Pfaffe Amis des Strickers zu sehen. 

Der Esel als großzügiger Erblasser


In Rutebeufs Das Testament eines Esels geht es um einen sehr wohlhabenden Priester, dessen ganzes Streben darauf gerichtet ist, seinen immensen Besitz noch weiter zu vergrößern. Einer der Gründe, warum der Kleriker einen derart großen Reichtum anhäufen konnte ist, dass er über zwanzig Jahre hinweg einen sehr arbeitsamen Esel namens Baudouin an seiner Seite hatte. Als der Esel jedoch an Altersschwäche stirbt, beschließt der Priester aus Wertschätzung und Dankbarkeit seinem Tier gegenüber, dieses – entgegen aller Gepflogenheiten und entgegen dem Willen der Kirche – auf einem Friedhof beizusetzen. 
 
Nur wenig später wird der Priester von einigen Neidern beim Bischof denunziert und muss sich daraufhin für sein Verhalten im ʻCasus Eselʼ rechtfertigen. Der Bischof erscheint zunächst in höchstem Maße unversöhnlich und droht damit, den Priester ins Gefängnis werfen zu lassen. Dieser bittet um einen Tag Aufschub; dann wolle er sich zu dem Vorwurf äußern. Als der Bischof seiner Bitte nachkommt, holt sich der Priester seine "gute Freundin" zur Hilfe: seine Geldbörse (Fn. 13). Mit einem prall gefüllten Geldgürtel, der zwanzig Pfund in barer Münze enthält, reitet er am darauffolgenden Tag zurück zum Bischof. Als jener erneut nach einer Erklärung verlangt, legt der Priester seinen Geldgürtel frei und erklärt dem Bischof: "Herr, hier sind nicht viele Worte angebracht: Mein Esel hat lange gelebt; ich hatte in ihm einen sehr guten Schutz und Schild. Er hat mir gedient und bereitwillig, sehr getreu für volle zwanzig Jahre; so wahr mich Gott erlösen möge, jedes Jahr verdiente er dabei zwanzig Sous, so dass er zwanzig Pfund gespart hat. Damit er von den Höllenqualen verschont bleibt, hinterlässt er sie Euch in seinem Testament" (Fn. 14). Der Bischof ‒ höchst erfreut über diesen unverhofften Geldsegen ‒ entgegnet daraufhin: "Gott helfe ihm, er vergebe ihm seine Verfehlungen und alle Sünden, die er begangen hat!" (Fn. 15).
 
Die Parallelen, die sich zwischen der Eselbeschreibung im Fabliau und der im Buch der Natur Konrads von Megenberg zeigen sind, dass das Tier in beiden Texten als besonders arbeitsam charakterisiert wird. In Rutebeufs Kurzerzählung bleibt es bei diesen ausschließlich positiven Zuschreibungen, denn die Negativ-Attribute bleiben gänzlich den beiden Klerikern vorbehalten. Der Priester wird insofern negativ dargestellt, als dass von ihm gesagt wird, seine 'gute Freundin' ‒ die Geldbörse ‒ lasse ihn niemals im Stich. An dieser Aussage lässt sich wohl am besten das Weltverständnis des Klerikers ablesen, gemäß dem beinahe alles käuflich ist und seinen Preis hat. Ein etwas positiveres Licht auf ihn vermag alleine die Tatsache zu werfen, dass er offenbar ein sehr inniges Verhältnis zu seinem Tier hatte, obgleich Esel im Mittelalter ganz überwiegend als reine Nutztiere gehalten wurden.
 
Einen weitaus verheerenderen 'Verfall der moralischen Werte' legt aber der Bischof an den Tag, wenn er ‒ in seiner grenzenlosen Bestechlichkeit ‒ beim Aufblitzen des Geldes sofort seine Meinung ändert und fortan auf das Seelenheil des Esels hofft. Maßlosigkeit scheint hier das Attribut zu sein, das die Kleriker in Rutebeufs Fabliau mit denjenigen in Konrads Eselbeschreibung gemeinsam haben (auch wenn sich die Maßlosigkeit in Konrads Text wohl eher auf den sexuellen Bereich bezieht). 
 

Der Esel als 'gelehriger Schüler'

 
In Der Pfaffe Amis des Strickers geht es ebenfalls um einen Kleriker, nämlichen den cleveren Pfaffen Amis, der nicht nur sehr schlau, sondern auch überaus spendabel und freigebig ist. Doch mit eben dieser Freigebigkeit zieht der Geistliche den Neid und die Missgunst des Bischofs auf sich. Der Bischof droht damit, Amis die Pfarrstelle zu entziehen. Amis erklärt daraufhin, er habe sich nie etwas zuschulden kommen lassen und eine Prüfung seiner theologischen Kenntnisse solle darüber entscheiden, ob er seine Pfarrstelle behalten dürfe. Der Bischof geht zwar zunächst auf dieses Angebot ein, stellt Amis aber Aufgaben, die eigentlich unlösbar sind, wie beispielsweise "Sag mir, wieviel Wasser das Meer enthält" (V. 101). Mit seinen klugen Antworten schafft Amis es jedoch stets, sich herauszuwinden; so auch bei der finalen Aufgabe des Bischofs. Dieser verlangt nun, der Pfaffe solle einem Esel das Lesen beibringen. Amis spielt auf Zeit und sagt, er benötige 30 Jahre, um den Esel so zu unterrichten, dass er des Lesens mächtig sei. Seine heimliche Hoffnung besteht darin, dass einer der drei Beteiligten ‒ entweder er selbst, der Esel oder der Bischof ‒ vor Ablauf dieser 30 Jahre aus dem Leben scheidet.
 
Nach der Abreise des Bischofs beginnt Amis mit dem Lese-Training für den Esel: dem Tier wird ein Buch vorgelegt und zwischen alle Seiten wird Hafer gestreut; jedoch stets nur in einer solchen Menge, dass der Esel niemals satt wird und umblättern muss, um weiteren Hafer zu finden und 'herauszulesen'. Diese Übungen betreibt der Pfaffe mit seinem Esel von früh bis spät, bis dieser das Umblättern (blatwerfen V. 253) perfekt beherrscht. Als der Bischof einige Zeit später zum Pfaffen zurückkommt, um sich über die Fortschritte des Esels zu informieren, bekommt er das 'Umblättern' vorgeführt. Da Amis diesmal jedoch keinen Hafer in das Buch gestreut hat, beginnt der Esel nach kurzer Zeit zu schreien. Auf die Frage des Bischofs, was dies zu bedeuten habe, antwortet Amis: "Er hat die Buchstaben gesehen. Ich bringe ihm das ABC bei. Davon hat er bisher nicht mehr gelernt als das A. Als er davon so viele erblickte, hat er es laut wiederholt, um es sich besser einzuprägen. Er ist außergewöhnlich gelehrig. Ich werde ihm alles beibringen, was ich soll" (Fn. 16). Darüber ist der Bischof höchst erfreut und zieht von dannen. Kurze Zeit später verstirbt der Bischof und Amis ist somit von der Aufgabe befreit. 
 
Entgegen dem heutzutage häufig gebrauchten Bild vom 'dummen Esel' erlernt das Tier in der Erzählung des Strickers zumindest die Kulturtechnik des Lesens. Allein die Sprache ‒ die lange Zeit über als das Unterscheidungskriterium zwischen Mensch und Tier galt ‒ bleibt ihm unzugänglich. Innerhalb der Handlung dient der Esel insbesondere dazu, die Klugheit des Pfaffen und die Unwissenheit und Weltfremdheit des Bischofs vor Augen zu führen, sodass sich der Rezipient am Ende fragen darf, wer hier eigentlich im sprichwörtlichen Sinne der ʽEselʼ ist: das Tier? Oder vielleicht doch viel eher der Bischof?
 
 
Fußnoten:
[2] Ebenda.
[3] Ebenda.
[4] RUTEBEUF: Das Testament eines Esels. In: Fabliaux. Schwankerzählungen des Hochmittelalters. Hrsg. v. Albrecht Gier. Stuttgart 1985 (RUB 8058), S. 222-231; DER STRICKER: Der Pfaffe Amis. Hg., übersetzt und kommentiert von Michael Schilling. Stuttgart 2007, S. 4-23; KONRAD VON MEGENBERG: 'Esel'. In: Das "Buch der Natur". Bd. 2 Kritischer Text nach den Handschriften. Hrsg. v. Robert Luff / Georg Steer. Tübingen 2003 (Texte und Textgeschichte 54), S. 144f. 
[5] UDO FRIEDRICH: Die Paradigmatik des Esels im enzyklopädischen Schrifttum des Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Am Beispiel des Esels. Denken, Wissen und Weisheitin literarischen Darstellungen der "asinitas". Hrsg. v. Hans-Jürgen Scheuer (= Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 25,1 Jg. 2015), S.93-109; SUSAN PEARSON / MARY WEISMANTEL: Gibt es das Tier? Sozialkonstruktivistische Reflexionen. In: Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Moderne. Hrsg. v. Dorothee Branz und Christoph Mauch. Paderborn u.a. 2010, S. 379-399.
[6] FRIEDRICH, (Anm. 5), S. 94.
[7] KONRAD VON MEGENBERG, (Anm. 4), S. 144.
[8] Ebenda.
[9] Ebenda.
[10] Ebenda.
[11] Ebenda.
[12] Auf: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg300/0185. Zugriff am 29.07.2015 um 9:59 Uhr.
[13] RUTEBEUF, (Anm. 4), V. 119-122.
[14] Ebenda, V. 148-157: «Sire, ci n'afiert plus lonc conte: / Mes asnes at lonc tans vescu; / Mout avoie en li boen escu. / Il m'at servi et volentiers / Moult loiaument vint ans entiers: / Se je soie de Dieu assoux, / Chacun an gaaingnoit vint soux, / Tant qu'il at espairgnié vint livres. / Pour ce qu'il soit d'enfer delivres / Les vos laisse en son testament.»
[15] Ebenda, V. 158.160: Et dist l'esvesques: «Diex l'ament / Et si li pardoint ses meffais /Et toz les pechiez qu'il at fais!»
[16] DER STRICKER, (Anm. 4), V. 292-300: "Er hat die buchstab hersehen. / Ich ler in daz a. b. c. / Des enhat er niht me / noch gelernet wan daz a. / Der hat er vil gesehen da. / Da von spricht ers dicke umb daz / daz ers behalt dester baz. / Er lernt zu der mazen wol. / Ich ler ouh in, waz ich sol."
 

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