"Wissenswandel und Wiederholung" - ein Gastvortrag von Prof. Gyburg Uhlmann

Ein Beitrag von Maral Schumann

Dem GRK 1876 ist es gelungen, Prof. Gyburg Uhlmann, Sprecherin des Sonderforschungsbereichs 980 Episteme in Bewegung, aus Berlin für einen Gastvortrag zu gewinnen. So hielt sie am 27. Januar 2022 einen spannenden Vortrag über Wissenswandel und Wiederholung: „Richtig Gebrauchen oder nur Besitzen? Praktiken und Kompetenzen des Nutzens in der griechischen Antike“. 

„Wissen“ ist mit den Konzepten, die wir in unserem GRK untersuchen, eng verbunden, denn vielfach werden Konzepte mit Wissen gleichgesetzt oder sind aus Wissensbeständen zusammengesetzt. Sowie sich das Projekt „Episteme in Bewegung“ mit der Bewegung von Wissen beschäftigt, so beschäftigen wir uns im GRK 1876 „Frühe Konzepte von Mensch und Natur“ mit Bewegungen, mit Transfer von Konzepte und Konzeptbestandteilen. Dieser Vortrag sollte eine Verbindung zwischen beiden Projekten ziehen.

Abb.1: Titelfolie des Vortrags aus der Präsentation von Prof. Uhlmann.

Im SFB „Episteme in Bewegung“ beschäftigen sich die Mitglieder seit 2012 mit der zentralen Frage, wie sich das Wissen in vormodernen Kulturen verändert. Zur Beantwortung dieser Frage wird die Annahme zugrunde gelegt, dass sich das Wissen durch und mit seinem Transfer verändert. Das Wort „Transfer“ wird hier als „Neukontextualisierung eines Wissenselements oder Wissensbestands in einen neuen Kontext“ definiert. Die Ausgangsbeobachtung dazu zeigte, dass sich Wissensübertragung und Wissenstransfer nicht nur in eine Richtung auswirken. Dieser komplexe Vorgang bewirkt keine linearen Veränderungen und wird von verschiedenen Parametern, wie zum Beispiel der Kultur, die dieses Wissen empfängt, oder dem Weg, über den dieses Wissen transferiert wird, beeinflusst. Transfer im Sinne der Neukontextualisierung ist kein Konzept, welches auf kulturellen Transfer von einer Kultur in eine andere Kultur beschränkt ist. Bei transkulturellen Praktiken würden solche Neukontextualisierungen stattfinden. Dies betrifft auch die Konzepte wie „Cultural Intelligence“, „Histoire croisée“, „Transferts culturels“ oder „globalgeschichtliche Methode“, die Impulse für die Entwicklung des Konzepts des Wissenstransfers zum vormodernen Wissenswandel gegeben haben. Als Beispiel dafür wurde die Wiederverwendung eines ägyptischen Pyramidenspruchs angeführt, welcher Jahrhunderte später auch auf andere Textträger wie Särge und Sarkophage übertragen wurde und eine große geographische Verbreitung über ganz Ägypten erfuhr. Als anderes Beispiel diente das anekdotische Wissen über Philosophen, welches von einer Textgattung in eine andere wandelt und dort jeweils eine unterschiedliche Art von Plausibilität hervorbringt.

Das Wort „Transfer“ beschreibt im klassischen Sinne den Vorgang, bei dem Wissen, Technologie oder ein kulturelles Produkt eines Landes oder einer Kultur in ein anderes gebracht wird und sich dort entfaltet. Diese Konstellation wurde traditionell oft als Akt der Machtausübung, als Aktion und Reaktion, als gebende und empfangende Kultur beschrieben. Im Rahmen des Konzepts des Wissenswandels wurde der Begriff „Transfer“ nun neu übersetzt und so erweitert, dass er eine komplexe Analyse beschreibt, in der sich multifaktorielle und multidirektionale Dynamiken ergeben. Es wurde dabei versucht, diese als Wissensautonomien zu fassen. Frau Prof. Uhlmann stellte in diesem Zusammenhang das digitale Projekt „Logbuch der Wissensgeschichte“ vor und richtete die Fragestellung ihres Vortrags in Verbindung zu unserem Graduiertenkolleg auf „Wiederholung als kulturelle Praxis“. Bei ähnlichen Ideen, Konzepten und Praktiken kann es sich einerseits um einen Transfer im Sinne der Übertragung von einem Kontext in einen anderen handeln, andererseits können diese auch Produkte von generellen anthropologischen Konstanten oder Vermögen sein. Bereits die klassische griechische Philosophie und Wissensliteratur bringen diese Unterscheidung ins Gespräch. Aristoteles vertritt in seiner Metaphysik ausdrücklich die These, dass Kulturentstehung keinen einmaligen Prozess darstellt, sondern dass beim Vorliegen bestimmter Bedingungen immer wieder neue Kulturen entstehen, die diesen Vorgang ähnlich durchlaufen können. Auch David Graeber und David Wengrow kommen in „The Dawn of Everything“, basierend auf Untersuchungen der indigenen Bevölkerung in Südamerika, auf ein ähnliches Ergebnis. 

Wichtig sind die Gedanken über den Unterschied zwischen der geschichtlichen Verwirklichung und der menschlichen Möglichkeit. Aristoteles hält es für möglich, dass ein und dieselbe Wissenschaft zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Orten unabhängig voneinander aufkommen und Wirkung zeigen kann. Die gleichen Ideen oder ähnliche Techniken müssen nicht immer auf eine direkte Weitergabe rückführbar sein. Unter Berücksichtigung der Bespiele der obigen Theorie von Aristoteles (1), „Histoire“ (2) oder auch andere Art von Wiederholungen wie „Renaissance“ (3) oder wie Massenproduktion von Terrakotta (4), schlägt Frau Prof. Uhlmann eine Typologie der Wiederholung vor: 

Wiederholung als Verwirklichung einer allgemeinen Möglichkeit (1)

Wiederholung als Prozess der Bewusstmachung über verschiedene Stufen (2)

Wiederholung als Wieder-Her-Holen (Rückgriff über zeitlichen Abstand hinweg) (3)

Wiederholung als kontinuierliche Folge (4).

In diesen Typologie-Vorschlag sollen weitere Aspekte miteinbezogen werden. Die Wiederholung des Gleichen in einem anderen Medium wird von der Wiederholung der Verwirklichung des gleichen Wissens/Knowhows unterschieden. 

Frau Prof. Uhlmann weist noch auf einen anderen Aspekt der Wiederholungen hin: Ob es sich um Wiederholung als Verhältnis zwischen Einzeldingen/einzelnen Situationen (Wissenstransfer) oder um Wiederholung als (Wieder-)Verwirklichung von etwas Allgemeinem (universal concepts) handelt, spielt für Wiederholungen eine zentrale Rolle beim Wissenstransfer. 

Wissenschaftlichen Historikern zufolge und auch nach Ansicht von Frau Prof. Uhlmann schauen Geisteswissenschaftler zumeist auf die Anpassungsprozesse des transferierten Wissens oder die transferierten Wissensbestände und auf das, was sich beim Transferieren an den Kontexten verändert hat. Es stellt sich deshalb die Frage, ob das die Betrachtung von Wiederholung ist oder ob man sich zu sehr auf Abweichungen während der Wiederholung und nicht auf die Wiederholung an sich konzentriert. Daraus wird folgende These formuliert: „Die Wiederholungen haben eine ganz bestimmte und keineswegs subversiv aufhebende, sondern konstitutive Funktion für das Erreichen einer Erkenntnisqualität, die nach Platon das Prädikat ‚Wissen‘ rechtfertigt“. Frau Prof. Uhlmann führt als Beispiel die Platonischen Dialoge an. Aus den Platonischen Texten werden drei Aspekte aufgezeigt:

1) Zeiten – Bouleuein als Anfangsimpuls

2) Gegenüberstellung von Episteme (begründetes Wissen) und Doxa (nicht hinreichend begründete Meinung)

3) Wohlberatenheit ist kein Wissen (Episteme)


Abb. 2: Zitat von Platon, Phaidon 100a9–b6, aus der Präsentation von Prof. Uhlmann.

Abschließend fasst Prof. Uhlmann die Rolle der Wiederholungen in Wissentransfer wie folgt zusammen: „Schulische Praktiken knüpfen als Wiederholungspraktiken Netzwerke. Wiederholungspraktiken schaffen kulturelle Kontinuitäten. Wiederholungen sind Motoren von Wissensproduktion und Wissenstradierung. Zum Wiederholen gehören Kritik, Täuschungen und Verbesserung. In den Aporien stoßen die ohne hinreichende Begründung ausgeführten Wiederholungen an ihre Grenzen und zeigen ihr Potential und bestimmte zu füllende Lücke.“

Abb. 3: Schematische Darstellung von Relation von Wissenstransfer und Universal Concepts aus der Präsentation von Prof. Uhlmann.

Mit Blick auf die Untersuchungen des GRK schlug Prof. Uhlmann abschließend vor, zu überdenken, ob es sich bei den betrachteten Phänomenen um Praktiken des Transfers und des direkten Austauschs oder um übergeordnete Sachverhalte und/oder anthropologische Möglichkeiten handele.

Wissenstransfer (Wiederholung als Verhältnis zwischen Einzeldingen) und universal concepts (Wiederholung als Verwirklichung von etwas Allgemeinem) sind möglicherweise keine Gegensätze, sondern können durch Gemeinsamkeiten ein breiteres Spektrum an Möglichkeiten verkörpern.

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