Shaping, Mirroring, Sharing the Illusory Reality through the Human Body: Cretan and Italic Anthropomorphic Figurines at the Very Beginning of the 1st Millennium B.C. Vortrag von Dr. Andrea Babbi am 5. Dezember 2019.
Ein Beitrag von Christoph Appel.
Bevor
wir das Jahr 2019 in geselliger Runde ausklingen ließen, durften wir auf einen
anregenden Plenumsvortrag von Dr. Andrea Babbi, Postdoktorand am GRK 1876,
gespannt sein. Frühe Repräsentationsformen des Menschen standen im Mittelpunkt
der Sitzung, die einen geographischen Schwerpunkt auf die Insel Kreta sowie die
Apenninen-Halbinsel (Latium) in einem Zeitraum vom 11. bis 9. Jh. v.Chr.
setzte. Bevor Andrea Babbi sich der Analyse der archäologischen Funde,
hauptsächlich anthropomorpher Terrakotta-Figurinen, zuwandte, begann er seinen
Vortrag mit einem Exkurs über die halluzinatorische Natur menschlicher
Wahrnehmung.
Exkurs I: Halluzination und Metakognition
Menschliche
Wahrnehmung lässt sich als eine Form kontrollierter Halluzination beschreiben. Andrea,
der hierin der neurologischen Forschung Anil Seths folgte,[1] legte dar, dass das
Gehirn des Menschen infolge äußerlicher Impulse eine Interpretation der Umwelt vornehme,
diese mithin nicht passiv wahrgenommen, sondern im Vollzug erzeugt werde.
Demgemäß erweise sich auch das Bewusstsein eines verkörperten Selbst als
kontrollierte Halluzination, wodurch es, präzisierte Andrea mit dem
Anthropologen Ernesto de Martino,[2] zugleich als
historische Größe kultureller Prägung unterliege. Damit hänge auch das
Verständnis einer Kulturgemeinschaft von ‚Realität‘ zusammen: eine weitgehend
übereinstimmende Deutung halluzinatorischer Wahrnehmung. Dass dieses Konzept jedoch
keineswegs unumstritten ist, wurde im Hinblick auf Julian Jaynes’ Theorie der
bikameralen Psyche deutlich.[3] Dieser entwirft die
Geschichte des menschlichen Bewusstseins als Auflösung eines unbewussten
Wechselspiels zwischen rechter, global wahrnehmender und linker,
detailfokussierter Hirnhemisphäre, die er im Verlauf des 2. Jt. v.Chr. ansetzt
und den Beginn einer modernen, metabewussten Psyche markiere. Andrea wies
darauf hin, dass Jaynes’ Überlegungen zuletzt durch den Psychiater Iain
McGilchrist dahingehend erwidert wurden, dass die ausgewogene Interaktion
zwischen beiden Hemisphären in bestimmten kulturellen, chronologischen und
geographischen Kontexten abgeschwächt worden sein könnte.[4]
Exkurs II: Spiegelneuronen und Ritual
Bei
der Frage nach der Konstruktion dessen, was eine Gruppe von Individuen als
‚Realität‘ begreife, ließen sich, weitete Andrea Babbi seinen Exkurs aus,
Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften und der Ethologie nutzbringend
anwenden. So seien an der Harmonisierung wahrnehmungsbezogener Halluzinationen
entscheidend sog. Spiegelneuronen beteiligt. Der Name dieser Nervenzellen, die
in den 1990er-Jahren erstmals an Makaken erforscht wurden, nimmt Bezug auf ihre
Einbindung in Prozesse der Beobachtung, Imitation und Aneignung von Handlungen
und Emotionen, indem sie diese ‚spiegeln‘, d.h. dieselben neuronalen,
physiologischen, motorischen und viszeralen Aktivitätsmuster bei einem
Beobachter wie bei einem Ausführenden hervorrufen.[5] In Anlehnung daran könnten
Riten und ritualisierte Handlungen als Mittel der Etablierung und
Konsolidierung gemeinschaftlicher Wahrnehmung verstanden werden. Auch für
rituellen Kontext bedeutsame Artefakte wie anthropomorphe Figuren stellten in
diesem Sinne eine Spiegelung gemeinschaftlich erlebter, illusionärer Realität
dar. Ihre Wirkungsweise als Aktivierung menschlicher Spiegelneuronen zu
begreifen, bildete den Ausganspunkt für Andreas abschließenden Ausblick auf die
archäologischen Funde.
Archäologische Funde
Eine
zentrale Überlegung im Verlauf von Andrea Babbis vielfältiger Materialschau, war,
inwiefern die archäologischen Funde Aussagen über das Bewusstsein des Menschen
bezüglich seiner eigenen Existenz und Rolle innerhalb beständig sich wandelnder
Formen der gesellschaftlichen Ordnung zulassen.
- Kreta, postpalatiale Periode (1190–970 v.Chr.): Nach dem Zusammenbruch des Palastes von Knossos lassen sich im Kontext kleiner Kultschreine insgesamt recht homogene anthropomorphe Figurinen nachweisen. Diese zeichnen sich durch häufig übergroße Köpfe und Hände sowie eine aufrechte Armhaltung aus. Auch zoomorphe Elemente sind nicht selten (z.B. Schlangen, Vögel). Andrea führte aus, dass die besondere Modellierung einzelner Körperpartien auf eine jeweils unterschiedliche Art zur Aktivierung der Spiegelneuronen des Betrachters führen konnte. Zudem lasse die homogene Gestaltung auf ein System von Symbolen und Werten schließen, das von den einzelnen Strömungen der Gesellschaft (z.B. mykenischen oder minoischen) zutiefst geteilt werde.
Abb. 1: Kreta, Gazi (Höhe: 58 cm)[6] |
- Kreta, protogeometrische Periode (970–810 v.Chr.): Es treten nun deutlich kleinere, heterogene anthropomorphe und zoomorphe Figurinen auf. Auffällig ist, dass die Gesellschaft in ihren Facetten (z.B. Anbeter, Krieger, klagende Frauen) stärker präsent ist. Möglich ist, dass die ikonographisch-visuellen Reize der Darstellungen eine Rolle bei der Zelebration von Schwellenmomenten (z.B. Pubertät, Tod) spielten und so den Aufbau einer gemeinsamen Realität bei zunehmend heterogenen Gesellschaften ermöglichten.
Abb. 2: Kreta, Symi Viannou (Höhe: 7,2 cm)[7] |
- Apenninen-Halbinsel, Albaner Berge (10./9. Jh. v.Chr.): Hier stammen sämtliche Funde aus Bestattungskontexten. Die als Grabbeigaben verwendeten Figurinen erweisen sich in ihrem ikonographischen Repertoire als homogen, entsprechen, soweit erkennbar, dem Geschlecht des Verstorbenen und fungieren vielleicht als kinetische Darstellung spezifischer Vorrechte des Toten, etwa als kommunikatives Bindeglied zwischen diesem und einer übernatürlichen Instanz.
Abb. 3: Grottaferrata, Villa Cavalletti, Nekropole, Grab VIII (Höhe: 13,7 cm)[8] |
Andreas
Vortrag, an den sich eine lebhafte Diskussion anschloss, konnte eindrucksvoll
verdeutlichen, dass die Entscheidung für transdisziplinäres Arbeiten mit einer
Weitung des wissenschaftlichen Horizontes einhergehen kann. Erst so schöpfen
die altertumswissenschaftlichen Fächer vollumfänglich ihre Potentiale für die
ganzheitliche Erforschung früher Kulturgemeinschaften aus.
[1] Vgl. u.a. Anil Seth/Geraint Rees: „Cognitive Neuroscience of
Consciousness“, Cognitive Neuroscience 1 (2010) (Special Issue); Anil
Seth: „What in the world is consciousness?“, Science Nordic (veröff. 26.10.2018), [https://sciencenordic.com/biology-denmark-forskerzonen/what-in-the-world-is-consciousness/1459648;
(letzter Aufruf: 06.01.2020)].
[2] Vgl.
Ernesto de Martino: Sud e Magia, Mailand 1959; Ernesto de
Martino: Il mondo magico. Prolegomeni a una storia del magismo,
Turin 1973.
[3] Vgl. Julian Jaynes: The Origin of Consciousness in the Breakdown
of the Bicameral Mind, Boston/New York 1976.
[4] Vgl. Iain McGilchrist: The Master and His Emissary. The Divided
Brain and the Making of the Western World, New Haven/London 32019.
[5]
Vgl. Giacomo Rizzolatti/Corrado Senigallia: Specchi nel cervello. Come
comprendiamo gli altri dall’interno, Mailand 2019.
[6] Giorgos
Rethemiotakis: Ανθρωπομορφική πηλοπλαστική στην Κρήτη από τη Νεοανακτορική έως την Ψπομινωική περίοδο, Athen 1998, Taf.
44.
[7] Angeliki
Lebessi: Το Ιερό του Ερμί και της Αφροδίτης στή Σύμη Βιάννου. ιιι. Τα χάλκινα
αντθροπομόρφα ειδώλια, Athen 2002, pl. 11.
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