Projektvorstellung von Dr. Ulrike Steinert – „Ancient Mesopotamian medical concepts and practices: General considerations and first case studies“


Am 16. Mai 2019 gab Dr. Ulrike Steinert, Post-Doktorandin am GRK 1876, dem versammelten Plenum einen spannenden Einblick in ihre Forschung zu Konzepten in der antiken mesopotamischen Medizin.

Ulrike Steinert untersucht für ihr Projekt diagnostische, therapeutische und pharmazeutische Texte sowie Kommentare zu diesen aus dem Zeitraum des 2. und 1. Jahrtausends vor Christus. Ein zentraler Ansatz ihrer Fragestellung ist dabei die Analyse konzeptueller Metaphern, speziell solcher der Quelldomäne „Umwelt“, die in den medizinischen Texten allgegenwärtig sind.

Anders als in anderen Kulturen (man vergleiche etwa die antike griechische Vier-Säfte-Lehre) scheint sich in Mesopotamien kein umfassendes System von Korrespondenzen entwickelt zu haben, das auf Analogien zwischen Elementen des medizinischen Mikrokosmos (etwa Körperteilen oder -funktionen) und Elementen des Makrokosmos (wie Jahreszeiten, Farben oder Qualitäten wie heiß und kalt) basieren würde. Gleichwohl finden sich in der mesopotamischen Medizin zumindest Ansätze für eine solche Systematisierung: Ein spätbabylonischer Text propagiert etwa ein „Vier-Organ-System“ und im 1. Jt. v. Chr. entwickelt sich auch die sog. Astro-Medizin, die Körper und Krankheiten mit den Himmelskörpern korreliert.

Ulrike Steinert geht davon aus, dass sich in den mesopotamischen Medizintexten noch mehr Formen von Korrespondenzen finden lassen. Ihr Augenmerk liegt vor allem auf Metaphern, die sich aus Erfahrungen der natürlichen und kulturellen Umwelt speisen. Zwar wurden in der Vergangenheit bereits die Vielfältigkeit und Allgegenwärtigkeit konzeptueller Metaphern v.a. in medizinischen Beschwörungsformeln konstatiert; meist standen jedoch in Hinblick auf Konzepte von Krankheit und Heilung eher übernatürliche Faktoren wie göttlicher Zorn, Dämonen und Hexerei im Fokus der Forschung.

Zu Ulrike Steinerts zentralen Forschungsfragen gehört daher die Bestimmung der Rolle von Umwelteinflüssen (im Vergleich zu übernatürlichen Kräften) bei der Beschreibung von Krankheitsursachen. Sie untersucht dabei vor allem, welche Rolle Metaphern im Rahmen der Konzeptualisierung des kranken wie auch gesunden Körpers spielen. Ein weiterer Punkt ist die Frage, welche Verbindung zwischen dem analysierten Wissen und Konzepten vom Körper zu den verwendeten medizinischen Substanzen und therapeutischen Praktiken besteht. Im Endeffekt wird all dies dazu beitragen, die medizinischen Diagnostiken, Rezepte und Heilmittel in den untersuchten Texten besser verstehen zu können.

Verschiedene Charakteristika mesopotamischer Medizin(texte) lassen die zentrale Rolle der konzeptuellen Metaphern deutlich werden. Diese ist schon dadurch bedingt, dass das damalige Wissen über die innere Anatomie des Menschen in erster Linie aus der Beobachtung äußerer Symptome sowie aus Analogieschlüssen etwa zu tierischer Physiologie oder anderen Umweltprozessen generiert wurde.

So verwundert es kaum, dass bestimmte Basismetaphern wie KÖRPER ALS GEFÄSS oder KÖRPER ALS LANDSCHAFT überaus häufig auftreten. Bei der kulturspezifischen Ausprägung dieser Metaphern spielen Auffassungen darüber, was Krankheit ist, eine wesentliche Rolle: Eine grundlegende Vorstellung in der mesopotamischen Medizin ist die von (Ir-)Regularität, wobei für die „Regulierung“ des kranken Körpers durch die Medizin häufig Bilder der Regulation von Umweltprozessen durch kulturelle Praktiken herangezogen werden – eine Facette, die Ulrike Steinert „the body technologic“ getauft hat [FN1] (als Pendant zu dem Ausdruck „the body ecologic“ von E. Hsu 2007 [FN2]).

Abbildung 1: Haushaltsaktivitäten als Metaphern für Körperfunktionen: Utagawa Kunisada, Inshoku yôjô kagami (Japan, 19. Jh.). 
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kunisada_-_Dietary_Life_Rules_(Inshoku_yôjô_kagami).jpg

 
Einige dieser Merkmale mesopotamischer Medizin veranschaulichte Ulrike Steinert sodann an drei interessanten Fallbeispielen.

1. Fallbeispiel:
 Der Verdauungstrakt als Bewässerungskanalsystem

Beim ersten Beispiel handelte es sich um eine Beschwörung (BAM 574 ii 46-48 + BAM 577: 1´-5´), die sich mit dem Problem kīs libbi („Zuschnürung des Bauchs“) befasst. Dort wird konstatiert, dass die Eingeweide des Patienten „voll von“ etwas, das heißt verstopft sind. Dabei werden Metaphern aufgerufen, die von den alltäglichen Erfahrungen der Mesopotamier mit ihren landwirtschaftlichen Bewässerungssystemen herstammen. Diese Kanäle mussten im Falle einer Verlandung von Arbeitern gesäubert werden, ein Vorgang, der im Text auf das Verdauungssystem übertragen wird: Der Heiler bittet eine Gruppe von Gottheiten (in anderen Beschwörungen werden sie „Töchter des (Himmelsgottes) Anu“ genannt) um Intervention bei der Krankheit. Hier fungieren die Gottheiten als Kanalarbeiterinnen, welche die Eingeweide des Patienten mit goldenen Schaufeln reinigen sollen, wobei sie ihre Anweisungen von einem „Inspektor“ des Verdauungssystems erhalten.

Der Körper wird also als eine regulierte Kulturlandschaft dargestellt, die von intelligenten und hierarchisch organisierten Wesen bewohnt wird – ein klarer Fall der Sicht des Körpers als „the body technologic“.


2. Fallbeispiel: 
Der Körper als Gefäß, Verdauung als Brauen
Eine weitere im Kontext von Verdauungsbeschwerden prominente Metapher ist die des Körpers als Gefäß. Im zweiten Fallbeispiel (BAM 574 iii 54) handelt es sich speziell um ein Brau-Gefäß. Dieses Behältnis, welches unten ein Loch besaß, durch das der Inhalt in ein weiteres Gefäß laufen konnte, wird mit dem Bauch identifiziert, und der Verdauungsprozess so mit dem Vorgang des Brauens. Zudem wird bemerkenswerterweise in dem Text die Brau-Mischung mit Wind gleichgesetzt: Dies macht deutlich, dass der Wind im Körper hier als Resultat eines natürlichen Prozesses verstanden wird, der dem Entstehen von Gasen bei der Fermentation entspricht. In vielen anderen Texten figuriert Wind hingegen als personifizierte Entität, die von außen in den Körper eindringt (vgl. das folgende Beispiel).


Abbildung 2: Der Körper als Gefäß, hier als Haus: Tobias Kohen/Toviyah Kats, Titelbild der Enzyklopädie Ma’aseh Toviyah (Venedig 1707). 
Quelle:https://en.wikipedia.org/wiki/Ma%27aseh_Toviyyah#/media/File:Houghton_Heb_7459.800_-_Ma%CA%BBa%C5%9Beh_%E1%B9%ACoviy.jpg


3. Fallbeispiel: 
Wind als Verursacher von Krankheiten
In einer anderen Beschwörung (BAM 574 iii 56-57) wird Wind als personifizierter Akteur direkt angesprochen. Er wird als „Feuer der Götter“ benannt und somit der göttlichen Sphäre zugeordnet. Zugleich ist er aber auch eine Substanz im Körper, die auf derselben Ebene wie Exkremente und Urin steht. Der Spruch soll den Wind dazu bewegen, den Körper zu verlassen, d.h. im Hintergrund steht hier vermutlich wieder eine Art Verstopfung des Verdauungssystems.

In diesem Text spiegelt sich die Ambiguität von Winden als personifizierte göttliche Entitäten (die z.B. in mythischen Erzählungen oder auf Abbildungen erscheinen) und zugleich natürliche (Körper-)Substanz (in Form von Luft, Gas, Atem). In medizinischen Texten fungieren Winde oft als Verursacher von Krankheiten; sie greifen den Körper an, dringen in ihn ein und bleiben manchmal darin gefangen, blähen den Körper auf und verursachen Hitze bzw. Fieber. Auch letztere Vorstellung (die Verbindung von Wind und Hitze/Feuer) kann aus Alltagserfahrungen heraus entstanden sein, z.B. aus dem Wissen, dass Luft beim Entfachen und Unterhalten des Feuers eine wichtige Rolle spielt.

Insgesamt zeigen Ulrike Steinerts Untersuchungen also schon jetzt die Komplexität und Vielfältigkeit der Konzepte in der mesopotamischen Medizin und machen deutlich, dass das medizinische Wissen neben seiner praktischen Seite auch eine beachtenswerte theoretische Grundlage hatte. Letztere bleibt zwar oft implizit, mit feinem forscherischem Gespür gelingt es jedoch, sie aus den Texten herauszuarbeiten.


Fußnoten:

FN 1: Ulrike Steinert (2017), „Concepts of the Female Body in Mesopotamian Gynecological Texts“, in: J.Z. Wee (Hg.), The Comparable Body: Analogy and Metaphor in Ancient Mesopotamian, Egyptian, and Greco-Roman Medicine. Leiden, 275-357.

FN 2: Elisabeth Hsu (2007), „The biological in the cultural: the five agents and the body ecologic in Chinese medicine“, in: D. Parkin/ S. Ulijaszek (Hg.), Holistic Anthropology: Emergence and Convergence. New York, 91-126.

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