Volkssprachliche Naturdidaxe beim Mediävistischen Kolloquium in Essen

Ein Beitrag von Sandra Hofert.

Der Blick auf ein Ei kann den ganzen Kosmos veranschaulichen: Die Schale stehe für das Firmament mit den Sternen. Die dünne Haut der Schale bedeute die Luft, das Weiße darunter das Wasser. Der Dotter zeige das Feuer, der Tropfen stehe für die Erde – so beschreibt Hugo von Trimberg in seinem Renner (13./14. Jh.) das Weltenei [vgl. Ausgabe Ehrismann V. 19807–19817]. Mikro- und Makrokosmos sind eng miteinander verbunden, sodass auch im Alltäglichen Gottes Schöpfung und Wunderbarkeit sichtbar wird. Das Motiv des Welteneis ist im Mittelalter weit verbreitet und findet sich beispielsweise auch bei Thomas von Cantimpré, dessen Liber de natura rerum eine wichtige Vorlage für Hugo ist.
Ein etwas anderes und v. a. komplexeres Modell vom Kosmos präsentiert Thomasin von Zerklaere in seinem Welschen Gast (1215/16): Hier geht es um die Drehung des Himmels um die Erde, die sieben Planeten mit ihren jeweiligen Qualitäten, das Zusammenspiel von Sonne und Mond und die vier Elemente und ihre Dynamik. In fast 300 Versen entfaltet Thomasin eine eigene Kosmologie [vgl. Ausgabe Rückert V. 2150–2420], die zum einen an zeitgenössische Traditionen, insbesondere an Werke der Schule von Chatrés, anschließt, zum anderen aber ein klares Zentrum hat: die Tugend der staete (Beständigkeit). Vor dem Sündenfall sei die Welt beständig gewesen, jetzt würde man nur noch am zyklischen Verlauf der Jahreszeiten Residuen dieser Beständigkeit finden können. So findet sich auch bei Thomasin eine enge Verbindung von Mikro- und Makrokosmos: Der Mensch habe seinen ihm von Gott gegebenen Platz im Schöpfungsordo verlassen und damit sei die ganze Welt unstaete geworden.



Das geozentrische Weltbild (links) und die Elemente mit ihren Sekundäreigenschaften (rechts) bei Thomasin
Quelle: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 389 (Sigle: A), fol. 35v. (links) u. 36v. (rechts)

Es ist ein ganz anderer Umgang mit naturkundlichem Wissen, der in diesem Vergleich deutlich wird: Wo der eine – Hugo – versucht, die göttlichen Zeichen zu deuten, versucht der andere – Thomasin –, das naturkundliche Wissen zu systematisieren und entwirft ein Modell, das über die Alltagserfahrung der Rezipienten deutlich hinausgeht. Ich beschäftige mich im Rahmen meines Promotionsprojektes genau mit der Frage, wie unterschiedliche Wissensformen ineinander wirken – wie Wissen von und über die Natur aufgegriffen und transformiert wird, um bestimmte Wissensinhalte zu vermitteln. Und ich freue mich sehr, dass ich auf Einladung von Prof. Dr. Martin Schubert die Gelegenheit hatte, mein Promotionsprojekt im Rahmen des Mediävistischen Kolloquiums an der Universität Duisburg-Essen am 24.04.2018 vor- und zur Diskussion zu stellen. Ich bedanke mich ganz herzlich für die interessante Diskussion und die vielen Anregungen, insbesondere bei Prof. Dr. Martin Schubert, PD Dr. Simone Loleit, Dr. Judith Lange und Dr. Eva Rothenberger.

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