SCRIPTO Summer School St. Gallen - Schriftkultur des Mittelalters (5. bis 15. Jh.), 4. bis 9. Juli 2016

Ein Beitrag von Stephanie Mühlenfeld.
 
Vom 4. bis 9. Juli 2016 fand in der Stiftsbibliothek St. Gallen die SCRIPTO Summer School St. Gallen (SSSS) – Schriftkultur des Mittelalters (5. bis 15. Jh.) statt, an der 10 DoktorandInnen aus unterschiedlichen Disziplinen der Mittelalterforschung teilnahmen. Die Summer School, die vom Lehrstuhl für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (PROF. DR. MICHELE C. FERRARI) und der Stiftsbibliothek St. Gallen (DR. CORNEL DORA, FRANZISKA SCHNOOR, PHILIPP LENZ) gemeinsam veranstaltet wurde, findet alle zwei Jahre statt. Ziel der Veranstaltung ist es, den Teilnehmern einen Einblick "in die Geschichte, die Formen und den kulturellen Wert der abendländischen Schrift vom 5. bis zum 15. Jahrhundert" zu gewähren (Fn. 1). Dabei werden die unterschiedlichen Schriftepochen anhand der kostbaren Handschriften der Stiftsbibliothek erläutert und ein jeder Teilnehmer erhält die Möglichkeit, im Rahmen von praktischen Übungen sein 'paläographisches Auge' (ital. occhio paleografico) zu schulen.
 
Neben den spannenden paläographischen Übungen, einem Gastvortrag PROF. DR. MARILENA MANIACIS (Università degli Studi Cassino Cassino) und einer Einführung in die mittelalterlichen Buchbindetechniken hatten die TeilnehmerInnen auch stets die Möglichkeit, die imposante barocke Stiftsbibliothek – die zu den schönsten Bibliotheken der Welt zählt – und den faszinierenden Veranstaltungsort St. Gallen genauer kennenzulernen (Abb. 1 und 2).
 
Abb. 1: Stifskirche St. Gallen (Foto: Stephanie Mühlenfeld).
Abb. 2: Barocksaal der Stiftsbibliothek St. Gallen (Foto: Jochen Vennebusch).
 

Handschriften hautnah – Vom Vergilius Sangallensis bis zum St. Galler Professbuch


Abb. 3: Das Team der SCRIPTO-DoktorandInnen (die sechs verschiedenen Nationen entstammen und VertreterInnen unterschiedlicher mediävistischer Disziplinen sind) gemeinsam mit Michele Ferrari, Franziska Schnoor und Philipp Lenz (Foto: Jochen Vennebusch).

Nach ihrer Ankunft in der Stiftsbibliothek wurden die TeilnehmerInnen am Montag, dem 4. Juli, zunächst von Cornel Dora, dem Stiftsbibliothekar, willkommen geheißen und von Michele Ferrari mit den Schrifttypen der Antike und Spätantike vertraut gemacht (Abb. 3). Die interessante Einführung in die paläographischen Grundlagen blieb sehr weit von einer theoretischen 'Trocken-Schwimmübung' entfernt, denn die Doktoranden bekamen – wie auch an allen darauffolgenden Tagen – von Franziska Schnoor und Philipp Lenz ausgewählte spätantike und mittelalterliche Codices vorgelegt. Als Beispiel für die Capitalis Quadrata etwa – die römische Majuskelschrift, die von den Anfängen der Schriftlichkeit bis ins 6. Jh. nach Chr. geschrieben wurde – bekamen die Teilnehmer den Cod. Sang. 1394, p. 7 gezeigt (Abb. 4). Es handelt sich dabei um den Vergilius Sangallensis, der im 4. oder 5. Jh. n. Chr. entstanden ist und damit zu den ältesten Handschriften der Stiftsbibliothek zählt.
 
Abb. 4: Capitalis Quadrata im Cod. Sang. 1394, p. 7. Bildquelle: http://www.e-codices.unifr.ch/en/csg/1394/7/0/Sequence-748. Zugriff am 13.07.2016 um 16:51 Uhr.

Im Anschluss an die paläographischen Übungen folgte am ersten Nachmittag eine 'unkonventionelle' – und gerade deswegen so wundervolle – Stadtführung von Herrn Dora. Dabei wurden die Teilnehmer gerade nicht durch die Stadt gelotst, sondern auf den Freudenberg, von dem aus sich ein unvergleichliches Panorama auf St. Gallen, das gesamte Umland und den Bodensee ergibt. Nicht verschwiegen werden sollte außerdem, dass sich auf dem Freudenberg das Naturschwimmbad "Drei Weihern" befindet, das zu den schönsten Freibädern der Schweiz zählt und daher bei den sommerlichen Temperaturen auf die meisten SCRIPTO-Teilnehmer sehr einladend wirkte.
 
Als wir von unserer Führung zurückkehrten, hatte das Team der Stiftsbibliothek-MitarbeiterInnen uns bereits ein leckeres Abendessen gezaubert und alle TeilnehmerInnen freuten sich darauf, den Tag – der so voll von neuen, spannenden Eindrücken war – bei angeregten Gesprächen, Spaghetti und Abra cadabra-Wein (dem Wein zur aktuellen Ausstellung der Stiftsbibliothek) ausklingen zu lassen.
 
Auch an den folgenden vier Tagen konnten sich die DoktorandInnen an einem abwechslungsreichen Programm erfreuen. Am Dienstag etwa standen Insulare Handschriften und die verschiedenen Ausformungen der Merowingischen Minuskel (Luxeuil-Schrift, alemannische und rätische Minuskel) im Fokus der Betrachtung. Im Anschluss an die paläographischen Übungen dieses Tages – die gerade im Hinblick auf die Entzifferung der Luxeuil-Schrift ein sehr gutes paläographisches Auge erforderten – durften die Teilnehmer in Filzpantöffelchen schlüpfen und Herrn Dora auf eine Führung durch die Ausstellung Abra cadabra – Medizin im Mittelalter folgen.
 
Am Mittwoch widmeten sich Herr Ferrari und sein SCRIPTO-Team ganz der Karolingischen Minuskel und den aktuellen wissenschaftlichen Diskussionen, die sich um ihre Entstehung ranken. Bereichert wurde das Programm zudem durch einen öffentlichen Gastvortrag MARILENA MANIACIS (Università degli Studi Cassino Cassino) zu dem Thema Das Buch der Bibel im benediktinischen Mönchtum. Der Fall Montecassino.
 
Am Donnerstagvormittag wurden die TeilnehmerInnen im Stiftsarchiv in die Urkundenschrift im Frühmittelalter eingeführt und bekamen dabei Kostbarkeiten wie beispielsweise das St. Galler Verbrüderungsbuch (StiASG, C3 B55) oder das Professbuch (StiASG, C3 B56; Abb. 5) gezeigt.
 
Abb. 5: Das St. Galler Professbuch (StiASG, C3 B56, p. 14). Bildquelle: http://www.sg.ch/home/kultur/stiftsarchiv/bestaende/stiftsarchiv_st_gallen/kostbarkeiten/sankt-galler-professbuch.html. Zugriff am 13.07.2016 um 17.43 Uhr.

In diesem Professbuch, das um 800 angelegt wurde, konnten die SCRIPTO-TeilnehmerInnen die Gelübde einsehen, "durch welche sich die St. Galler Mönche vor Gott und den Heiligen auf Lebenszeit zum Verbleiben im Kloster St. Gallen, zum Gehorsam gegenüber dem Abt und zum sittenstrengen Wandel verpflichteten" (Fn. 2).
 
Am Nachmittag stand dann die Lehreinheit "Buchbinden im Mittelalter: Geschichte und Praxis" auf dem Programm, die bei allen DoktorandInnen für große Begeisterung sorgte.
 
Der Freitag stand im Zeichen der gotischen Minuskel, frühhumanistischer Schrifttypen und der Bastarda. Nach den paläographischen Übungen wurde den TeilnehmerInnen zudem ein Einblick darein gewährt, wie die St. Galler Handschriften digitalisiert werden und das e-codices-Projekt sowie das International Digital Research Lab for Medieval Manuscript Fragments "Fragmentarium" wurden vorgestellt (Fn. 3).
 
Den Abschluss der SCRIPTO-Woche bildete eine Exkursion auf die Klosterinsel Reichenau, wo eine Führung durch das Marienmünster und die Schatzkammer stattfand und die TeilnehmerInnen den Ort besichtigen konnten, an dem der St. Galler Klosterplan (Cod. Sang. 1092) entstanden ist.
 
 

Mit Filzpantöffelchen auf Entdeckungstour: Die Ausstellung Abra cadabra – Medizin im Mittelalter


Eines der zahlreichen Highlights der SCRIPTO-Woche war sicherlich der Besuch der aktuellen Sommerausstellung Abra cadabra ‒ Medizin im Mittelalter, die "anhand der e­inmal­igen Handschriftensammlung der St­iftsbi­bli­othek [einen Bogen spannt] von der frühm­ittelalterli­chen Überlieferung mediz­ini­scher Texte des Altertums über das Otmarspi­tal i­m 8., den Spi­talbezirk auf dem Klosterplan ­im 9. und das Wi­rken Notker des Arzts i­m 10. Jahrhundert b­is hi­n zur spätmi­ttelalterli­chen Hei­lprax­is. Si­e zei­gt zudem Be­ispi­ele von Wunderhei­lungen und eri­nnert an d­ie ethi­sche Grundlegung der chri­stli­chen Krankensorge ­in der B­ibel – etwa m­it der Gesch­ichte des barmherzi­gen Samar­iters – und i­n der Benediktsregel" (Fn. 4) (Abb. 6).
 
Abb. 6: Filzpantöffelchen in Wartestellung (vor dem Eingang zum Barocksaal). (Foto: Jochen Vennebusch). 
 
 

Wenn über 1000 Jahre alte Codices zum 'Bücherarzt' müssen – Dem Restaurator und Buchbinder Martin Strebel über die Schulter geschaut 


Am Donnerstag hatten die SCRIPTO-TeilnehmerInnen außerdem die Ehre und das Vergnügen, von Martin Strebel mehr über die zeitliche Einordnung mittelalterlicher Hefttechniken zu lernen. Der Restaurator, der seit vielen Jahren das Atelier Strebel – eine Werkstatt für Konservierung und Restaurierung von Schriftgut und Grafik – in Hunzenschwil (Aargau) leitet, hatte extra für die SCRIPTO-TeilnehmerInnen vier Werkstattvideos gedreht, in denen er die Unterschiede und Eigenheiten der koptischen, karolingischen, romanischen und gotischen Hefttechnik erläuterte. Darüber hinaus begeisterte der engagierte Buchbinder mit eigens angefertigten Modellen der jeweiligen Buchbindetechnik (Abb. 7).
 
Abb. 7: Martin Strebel erklärt den SCRIPTO-TeilnehmerInnen, wie Bucheinbände datiert werden können. (Foto: Stephanie Mühlenfeld).

So erfuhren die DoktorandInnen etwa über die koptische Hefttechnik, die ihre Anfänge bei den Kopten hat und in der Karolingerzeit, im 8. Jh. endet, dass bei ihr der Buchdeckel entweder mit dem Heftfaden oder mit einem vom Faden der Lagen getrennten Faden befestigt werden kann.
 
Die karolingische Hefttechnik, die vom 8. bis zum 12. Jh. angewandt wurde, wird auch als 'karolingische Fischgrätheftung' bezeichnet. Sie blieb auch in späterer Zeit, als die Bücher zum Teil einen romanischen Einband erhielten, noch über Jahrhunderte hinweg in Gebrauch.
 
Das Charakteristikum romanischer Einbände ist in der Verwendung von Lederbünden zu sehen, die von dem Heftfaden einmal pro Lage oder als Rundbogenheftung umschlungen werden.
 
Auch die gotische Hefttechnik, die sich vom 14. bis ins 17. Jh. erstreckt, ist an ihren Doppelbünden auf Schnur (mit einer Fadenbindung pro Lage) oder der Rundbogenheftung zu erkennen. Neu ist an ihr die veränderte Deckelbefestigung, denn die Bünde werden über die Falzkante im Deckel verankert.
 
Diese Informationen sind enorm wichtig, da sie in der Wissenschaft als Anhaltspunkte für die Datierung mittelalterlicher Codices herangezogen werden können.
 
 
Zusammenfassend lässt sich über meinen St. Gallen-Aufenthalt sagen, dass mir eine unvergesslich tolle Summer School geboten wurde, bei der ich viel Nützliches und Interessantes lernen durfte. Darüber hinaus hat es mich sehr gefreut, mit so vielen lieben Kollegen in angenehmer Atmosphäre diskutieren zu können und neue Kontakte zu knüpfen.
 
Abschließend möchte ich mich ganz herzlich für die Finanzierung meiner SCRIPTO-Teilnahme durch das Graduiertenkolleg 1876 "Frühe Konzepte von Mensch und Natur" bedanken.
 
 
Fußnoten:
[2] Werner Vogler, Kostbarkeiten aus dem Stiftsarchiv St. Gallen in Abbildungen und Texten, St. Gallen 1987, S. 13.[3] Auf e-codices, der virtuellen Handschriftenbibliothek der Schweiz (http://www.e-codices.unifr.ch/de) können zum jetzigen Zeitpunkt 1554 digitalisierte Handschriften aus 67 verschiedenen Sammlungen eingesehen werden. Fragmentarium ist ein Projekt der Universität Fribourg. Für weitere Informationen siehe: http://fragmentarium.ms/contact.html. Zugriff am 14.07.2016 um 11:47 Uhr.
[4]
http://www.stibi.ch/Portals/0/Ausstellungen/Medizin_16/Abracadabra_Karte_A5_dt.pdf. Zugriff am 14.07.2016 um 12:24 Uhr.

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