Vortrag von Prof. Dr. Mathias Herweg ‒ Anfang und Ende der Welt im Stabreim. Entwürfe der ältesten deutschen Literatur

Ein Beitrag von Stephanie Mühlenfeld.

Mit seinem Vortrag Anfang und Ende der Welt im Stabreim. Entwürfe der ältesten deutschen Literatur gewährte Prof. Dr. Mathias Herweg am 5. Februar 2015 sehr spannende Einblicke in zwei frühmittelalterliche deutsche Texte aus dem 9. Jahrhundert, in denen die weltgeschichtlichen Schlüsselereignisse 'Anfang' und 'Ende' bildmächtig und wortgewaltig Entfaltung finden.
 
Zum einen stellte Herr Prof. Dr. Herweg das Wessobrunner Schöpfungsgedicht vor, das die Form der altheroischen Stabreimpoetik aufgreift und damit bewusst einen vorchristlich-paganen Anklang evoziert, der auf die Akkulturation des christlichen Inhalts abzielt.
 
Zum anderen wurde anhand des Muspili verdeutlicht, dass literarisch geschaffene, apokalyptische Endzeitszenarien auch als konkrete Zeitdichtung verstanden werden können: als Kritik an den Missständen der Karolingerzeit und als Warnung vor deren Folgen.

Prof. Dr. Mathias Herweg forscht und lehrt seit 2010 als Professor für germanistische Mediävistik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).
 
Themen, mit denen er sich im Rahmen seiner Forschung auseinandersetzt, sind unter anderem Fiktionalität und Historizität, Intermedialität, Gedächtnis und Gedächtniskultur, Herkommen und Herrschaft, Gender-Aspekte interkulturellen Transfers, weibliches Mäzenatentum sowie die Thematik, die ihn zu einem besonders interessanten Gast für das Graduiertenkolleg "1876 Frühe Konzepte von Mensch und Natur" gemacht hat, nämlich Wissen und Wissenskonstitution.
 

Der kulturelle Rahmen: Das Fränkische Reich um 800 und die Karolingische Reform

 
Die Zeit um 800 zeichnete sich auf fränkischem Gebiet ‒ aber auch weit darüber hinaus ‒ als eine "Epoche der Anfänge" und "des produktiven Chaos" aus; als eine Epoche, in der sich eine neue Sprache und Literatur etablieren und festigen konnten.
 
Die Durchsetzung jener neuen Sprache und Literatur ist dabei als Bestandteil der kulturellen Transformation zwischen Spätantike und Mittelalter zu begreifen. Eine ganz entscheidende Rolle im Hinblick auf diese 'Transformation' spielte das ambitionierte Vorhaben Karls des Großen, eine Vereinheitlichung der Schriftsprache zu erreichen. Die angestrebte norma rectidtudinis (Norm der Richtigkeit) sollte zum Bestandteil einer christlichen Reichskultur werden und ist einem ganzen Komplex an Neuerungen zuzurechnen, der von Karls Hof ausging und heute unter dem Namen "Karolingische Reform" oder ‒ etwas ahistorisch ‒ unter dem der "Karolingischen Renaissance" bekannt ist [Fn. 1].
 
Die Bereinigungen und Berichtigungen, die auf Karls Agenda standen, betrafen zunächst nur das Lateinische. Sie gelangten vor allem innerhalb des neu entstandenen, ersten nachantiken Schulwesens zur Anwendung. Dieses Schulwesen war gekennzeichnet durch eine Gliederung in die septem artes liberales und brachte eine neue Bildungselite hervor. Die lateinische Sprache fungierte zu dieser Zeit als 'einigendes Band' der reichstragenden Elite, aber auch die laikalen Sprachen gewannen zunehmend an Bedeutung. So entstand zum einen das Mittellateinische und zum anderen wurde aus eben diesem gerade entstehenden Mittellatein die vulgärlateinisch-romanische Volkssprache ausgegliedert, sodass um 840 die Sprache entstand, die wir heute 'Altfranzösisch' nennen. 
 
Daneben verbreiteten sich östlich von Maas und Rhein die germanischen Idiome, die in heutiger Zeit mit dem Kunstbegriff 'Althochdeutsch' bezeichnet werden. Das Althochdeutsche stellte für Lateinsprecher ebenso eine Fremdsprache dar, wie das Lateinische für Althochdeutsch-Sprecher. Für beide Seiten war die jeweils andere Sprache nur mühsam erlernbar, da zwischen Latein und Althochdeutsch ‒ im Unterschied zu der Sprachverwandtschaft zwischen Latein und Altfranzösisch ‒ nur ein indogermanischer Konnex besteht. Besonders anschaulich wird diese Problematik anhand der ersten deutsch-romanischen Reisewörterbücher, die für die reisende und grenzüberschreitende Aristokratie konzipiert waren.

Ohne die althochdeutsche Sprache hätten aber Karls Reformen nicht die Breitenwirkung bei der Bevölkerung erzielen können und auch für die religiöse Einheit des Reiches war sie als notwendige Vermittlungssprache von immenser Bedeutung.

In der theodiscen, fränkischen Volkssprache lebten aber auch Elemente der oralen Kultur fort: Wie in der Vita Caroli Magni des Chronisten Einhard nachzulesen ist, gab Karl der Große in Auftrag, dass auch die uralten Heldenlieder niedergeschrieben werden sollten und vorchristliche Denkmuster wurden somit ‒ wenn auch unter veränderten Vorzeichen ‒ auf Pergament festgehalten. Als Zeugnis dessen sind die Merseburger Zaubersprüche aus dem 9. Jahrhundert oder das tragisch-heroische Hildebrandslied anzusehen. Doch wie ließen sich die paganen Traditionen mit dem Gedanken der christlichen Reichseinheit in Einklang bringen? Insbesondere in den sächsischen Gebieten, in denen noch keine klerikale Kultur vorhanden war?

Herr Prof. Dr. Herweg erklärte diesbezüglich, dass die christlichen Dichter Kompromisse an den Stellen eingingen, "an denen es dogmatisch unbedenklich erschien"; das heißt insbesondere im formalen Bereich, in der Metaphorik und im Stabreim. Die frühen Dichter versuchten auf diese Weise, ihre Rezipienten "dort abzuholen, wo sie standen" oder anders ausgedrückt "eine Akkulturation an eine neue Lebens- und Denkwelt zu schaffen".
 

Der Anfang der Welt im Wessobrunner Schöpfungsgedicht

 
Das Wessobrunner Schöpfungsgedicht, auch Wessobrunner Gebet genannt, ist in seiner rheinfränkischen Urfassung um 800 entstanden. Es verwundert zunächst durch seinen Namen, da der Ort seiner Entstehung nicht Wessobrunn ist und es sich bei dem Text auch nicht um ein Gebet im engeren Sinn handelt. Die rheinfränkische Urfassung dieses ältesten deutschen Stabreimgedichtes ist nicht mehr erhalten, aber es existiert noch ein Textzeugnis in bayrischer Mundart, welches vermutlich in Regensburg zu Pergament gebracht wurde. Dieser Text wurde auf dem Rand einer wertvollen Handschrift im oberbayrischen Benediktinerkloster Wessobrunn gefunden, was die Namensgebung des Textes erklärt.

Das Wessobrunner Schöpfungsgedicht besteht aus zwei Teilen: einem Gedicht und einem daran anschließenden Gebet.

In dem Gedicht werden die Erde vor der Erschaffung der Welt und die Gegenwart des allmächtigen Gottes beschrieben. In dem anschließenden Gebetteil wird dieser allmächtige Gott darum gebeten, den Menschen den rechten Glauben zu verleihen. Auch wenn das Gebet eng auf das Gedicht bezogen ist, scheint das Gedicht ursprünglich selbstständig gewesen zu sein.

Es ist daher zu vermuten, dass das Gedicht als Fragment in einen neuen Überlieferungs- und Gebrauchskontext gelangte. Jedoch vermittelt die neue Zusammenstellung der beiden elementaren Bestandteile keineswegs den Eindruck, es handle sich hierbei um etwas Fragmentarisches; vielmehr ergibt sich aus der Verbindung von Gedicht und Gebet ein völlig kohärenter Gesamtsinn.

Darüber hinaus zeigen sich strukturelle Gemeinsamkeiten des Textes mit den Merseburger Zaubersprüchen, was zum besseren Verständnis beitragen kann. Auch das Wessobrunner Schöpfungsgedichts sucht bewusst den Anklang an eine alte polytheistisch-mythische Welt. Dabei wird stofflich Neues in die bereits ausgehärtete Form etablierter formaler Strukturen gegossen ‒ nämlich in die alte Stabreimpoetik.

Besonders deutlich wird dies bereits anhand des Anfangs, denn in der Formulierung Dat gafregin ich ‒ die mit "das erfuhr ich" übersetzt werden kann ‒ zeigt sich der alte Erzählduktus, der auf die mündliche Überlieferungstradition Rekurs nimmt und darauf abzielt, Glaubwürdigkeit zu schaffen.
 
Parallelen dazu finden sich sowohl im althochdeutschen Hildebrandslied, das mit Ik gihorta ðat seggen ("Ich hörte [glaubwürdig] berichten, dass […]") beginnt, als auch in dem viel später verschriftlichen Nibelungenlied, dessen Anfang lautet Uns ist in alten mæren wunders viel geseit ("In alten Geschichten wird uns vieles Wunderbare berichtet"). Damit reiht sich das Wessobrunner Schöpfungsgedicht einerseits in eine altehrwürdige Tradition ein, thematisiert aber unerhört Neues. Es täuscht altes heidnisches Liedgut nur vor, um dann über christliche Inhalte zu sprechen. Dabei verfährt es gerade nicht wie die Bibel, in der Formulierungen wie "Gott schuf […] und Gott sah, dass es gut war" zu finden sind. Im Wessobrunner Schöpfungsgedicht zeigt sich vielmehr eine Kosmogonie ex negativo; das vorkreatorische Nichts wird 'beschrieben'. Anders als in der Bibel lässt sich der Zustand vor der Schöpfung nur in Form einer negativen Kosmogonie wiedergeben, denn wer existierte und agierte bereits vor dem Anfang? Und das Nichts ist nicht narrativierbar. Die Schöpfung wird somit nicht als Neubeginn beschrieben, sondern als Zäsur zu dem Davor.
 

Das Ende der Welt im Muspili

 
Auch das Muspili stammt aus Bayern. Sein genauer Entstehungszeitraum ist umstritten, dürfte jedoch in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts gelegen haben. Entdeckt wurde der fragmentarische Text im Kloster St. Emmeram zu Regensburg, innerhalb einer Handschrift, die 829 dem späteren König Ludwig dem Deutschen gewidmet wurde. Das Muspili ist Prof. Herwegs Meinung nach als eine Art "bayrisches Fragment einer poetischen Bußrede" anzusehen, das von einem vermutlich sehr ungeübten Schreiber ‒ oder zumindest nicht von einem monastischen Alltagsschreiber ‒ zu Pergament gebracht wurde.

Die Bilder, die der Text entwirft, erinnern sehr stark an die Weltuntergangsszenarien, die in der Edda (Völuspa) nachzulesen sind ‒ nur mit dem Unterschied, dass die des Muspili christlich geprägt sind. Das Schicksal der Menschen nach deren Tod, sowie das große göttliche Gericht werden sehr drastisch und angsteinflößend auserzählt. Was hier heraufbeschworen wird, ist allerdings nicht bloß die Prophetie einer schrecklichen Zukunft. Vielmehr kommt innerhalb des Textes eine Zeitkritik zum Tragen, welche sich auf die Missstände im Karolingerreich bezieht: vornehmlich auf die Korruption von Seiten der Aristokratie. Zugleich wird im Muspili die Absicht verfolgt, dass Geschilderte ‒ den Untergang der Welt ‒ möglichst lange zu bannen.


Fußnote:
[1] Die Bezeichnung "Karolingische Renaissance" wurde von Erna Patzelt 1924 in Frage gestellt und ist seither umstritten. So bemerkt etwa Peter Hilsch, dass während der Regentschaft Karls des Großen zwar auf spätantike, christliche Elemente zurückgegriffen wurde, dass aber "keine Anknüpfung an das klassische Altertum nach Art der Renaissance des 15. Jahrhunderts" stattfand. Vgl. Hilsch, Peter: Das Mittelalter ‒ die Epoche. Konstanz 2006, S. 71.
 

Kommentare