„Welscher Gast digital“. Ein mittelalterliches Lehrgedicht wird digital erschlossen

Ein Beitrag von Sandra Hofert.


Das Werk von einem Gast aus dem Welschland

Direkt zu Beginn des mittelhochdeutschen Lehrgedichtes "Der Welsche Gast" (1215/16) nennt sich der Verfasser, Thomasin von Zerklaere, selbst mit Namen und stellt sich als ein Fremder aus dem Welschland vor, genauer gesagt aus dem norditalienischen Friaul. Die deutsche Sprache ist also nicht seine Muttersprache und so inszeniert er sich als ein Bote aus der Fremde, welcher der in Text und Bild personifizierten deutschen Zunge sein Werk überreicht.



Abb. 1: Blick in Handschrift A mit der Illustration "Überreichung des Werkes an die deutsche Zunge" (unten) (Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg. Cod. Pal. germ. 389, fol. 2r).
 
"Der Welsche Gast" ist ein breit überliefertes Werk: 25 Handschriften sind derzeit bekannt, wovon 15 bebildert sind. Mit insgesamt 125 Motiven ist es vermutlich von Anfang an als Text-Bild-Werk konzipiert worden (vgl. Abb. 1). Dafür spricht auch, dass Thomasin an einer Stelle im Text selbst auf die Illustration verweist und die allgemeinen Vorteile von Bildern für Ungebildete und junge Leute beschreibt. "Ungebildet" meint hier insbesondere das lateinunkundige adlige Publikum am Hof, denn obwohl Thomasin in seinem Werk ganz verschiedene Stände miteinbezieht, wendet er sich eindeutig v. a. an das höfische Publikum.
Sein Werk ist eine ganzheitliche Lehre von Mikro- und Makrokosmos, das an zahlreiche Vorlagen und Traditionen anschließt und sowohl literarische als auch enzyklopädische Elemente aufweist. Das ganze Werk bewegt sich dabei zwar vor einem christlichen Hintergrund – der Wille Gottes und die von ihm vorgegebene Schöpfungsordnung wird immer wieder betont – doch ist es v. a. eine weltlich orientierte Tugendlehre rund um die vier Haupttugenden staete (Beständigkeit), mâze (Maßhalten), reht (Recht/Gerechtigkeit) und milte (Gnade).


Das Projekt. Die digitale Erschließung von Text und Überlieferung

Die bisher grundlegende Edition des Textes ist die Ausgabe von Heinrich Rückert von 1852, welche aber nur einen Teil der handschriftlichen Überlieferung integriert und bei der das enge Verhältnis von Text und Bild gar nicht berücksichtigt wird. Von dieser Ausgabe ausgehend wird nun seit 2011 im Rahmen eines Kooperationsprojektes der Universitätsbibliothek Heidelberg und des Sonderforschungsbereiches 933 "Materiale Textkulturen" der Universität Heidelberg, einem Kooperationspartner des GRK 1876, intensiv an einer digitalen Text-Bild-Ausgabe gearbeitet. Die im Zuge dessen entwickelte Plattform "Welscher Gast digital" bietet eine umfangreiche und frei zugängliche Erschließung des so zentralen mittelhochdeutschen Werkes.
Auf dieser Plattform findet sich der Editionstext der Ausgabe Rückerts als digital durchsuchbarer Volltext, welcher die Grundlage und Referenz der Versnummerierung für den neuen kritischen Lesetext bilden soll, welcher nicht nur die gesamte handschriftliche Überlieferung berücksichtigen, sondern auch mit den Volltexten aller einzelnen Handschriften verknüpft sein wird. Auch eine Verlinkung mit dem digitalen mittelhochdeutschen Wörterbuch ist geplant. Darüber hinaus sollen einzelne Transkriptionen und Editionstexte auch in synoptischer Ansicht angezeigt und somit leicht vergleichbar gemacht werden (vgl. Abb. 2).



Abb. 2: Einblick in die Beta-Version der Synopse (Quelle: Screenshot von "Welscher Gast digital").

Die zahlreichen Illustrationen sind nach Motiven geordnet und mit dem Text verknüpft. Darüber hinaus werden die einzelnen Motive in ihren jeweiligen Bestandteilen analysiert sowie annotiert und auch die Bildbeschriftungen werden visualisiert und transkribiert. Ein speziell entwickelter Viewer ermöglicht ferner eine vergleichende Motivübersicht und ein dynamischer Graph zeigt das gemeinsame Vorkommen von Bildakteuren (vgl. Abb. 3).

Abb. 3: Der dynamische Graph der Bildakteure (Quelle: Screenshot von "Welscher Gast digital").

Eine so umfangreiche und frei zugängliche Erschließung des "Welschen Gastes", die darüber hinaus auch die Digitalisate der Handschriften zur Verfügung stellt, macht nicht nur den Editionsprozess selbst transparent, sondern stellt zentrale Informationen zur Verfügung, um auch die literatur- und bildwissenschaftliche Analyse des Werkes weiter zu vertiefen.
Ich bedanke mich herzlich bei Jakub Šimek, dass ich die Gelegenheit hatte, einen Einblick in die spannende Projektarbeit zu bekommen, und freue mich über die zahlreichen Hinweise und Anregungen.

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