Vorstellung des Dissertationsprojekts von Marie-Charlotte von Lehsten: "Die Rolle der Nacht in der archaischen und klassischen griechischen Literatur"

Ein Beitrag von Mirna Kjorveziroska. 

Am 6. Juli 2017 hat Marie-Charlotte von Lehsten im Rahmen der Plenumssitzung des GRKs vor dem Trägerkreis und den Kollegiatinnen und Kollegiaten einen Einblick in ihr Dissertationsprojekt "Die Rolle der Nacht in der archaischen und klassischen griechischen Literatur" geboten und einen Prospekt präsentiert, welche Fragen, die sich in der bisherigen Arbeit herauskristallisiert haben, beantwortet werden sollen, sowie welche Deutungskonturen, die sich bei den ersten Begegnungen mit dem Thema abgezeichnet haben, durch weitere Analysen zu vollständigen interpretatorischen Gebilden auszuformen sind.

Textkorpus und lexikalische Kodierung der Nacht 

Zunächst wurden die chronologischen und gattungstypologischen Grundkoordinaten des Textkorpus präzisiert, das sich über den Zeitraum vom 8. bis zum 5. Jh. v. Chr. erstreckt und poetische Texte von Homer bis zur attischen Tragödie sowie Prosaformate wie die Texte der klassischen Historiker umfasst. Des Weiteren wurde das lexikalische Spektrum vorgestellt, mit welchen Signifikanten die Nacht im Griechischen referentialisiert werden kann. Dabei war eine Absenz von lexikalischen Varianten und konkurrierenden Synonymen festzustellen, da nur das Femininum νύξ als herkömmliche Nachtbezeichnung zur Verfügung steht. Eine seltene Alternative stellt das Lexem εὐφρόνη dar, was u.U. als ein sprachlicher Verharmlosungsversuch zu deuten ist, das Erschreckende und das Bedrohliche der Nacht durch die Verwendung eines positiven Begriffs zu neutralisieren (zu deuten etwa als 'die Wohlwollende / fröhlich Machende'). Eine Subdifferenzierung konnte an den Nachtabschnitten bzw. an den liminalen Phasen aufgezeigt werden, die die Nacht zäsurieren und ihre Kontaktstellen mit dem Tag markieren: Lexikalisch unterschieden wird zwischen ἕσπερος/ἑσπέρα ('Abend'), ὄρθρος ('Morgengrauen'), und ἠώς/ἕως ('Morgenröte'). Analysiert werden müssen allerdings auch zahlreiche Textpassagen, die lexikalisch nicht ausgezeichnet sind bzw. das Substantiv νύξ nicht explizit enthalten, sondern in denen die Nacht assoziativ aktualisiert wird, durch Erwähnung von Ereignissen oder Handlungen, die man mit der Nacht verbindet. Eine solche Assoziationsumschrift der Nacht ist beispielsweise im Epos das kollektive Schlafengehen.

Die Absenz expliziter Nachtbeschreibungen und ihre Kompensation

Ebenso wenig wie auf die Vorkommnisse des Substantivs νύξ ließe sich Marie-Charlotte von Lehstens Untersuchung auf detaillierte descriptiones der Nacht beschränken. Eine Möglichkeit, die Seltenheit expliziter Nachtbeschreibungen im Textkorpus zu plausibilisieren, sieht von Lehsten in deren routinierter Präsenz: Die Nacht als eine allgemein bekannte, in einem konstanten Rhythmus immer wieder zu beobachtende Erscheinung verfügt nicht über die Aura des Einmaligen, Exotischen und Exklusiven, sodass dieser Status einer habituellen Selbstverständlichkeit jegliche deskriptiven Aufwände blockiert. Dem diskursiven Defizit ist dadurch beizukommen, dass auch all jene narrativen Konstellationen ausgewertet werden, die als Nachthandlungen kodiert sind oder in denen die Nacht lediglich als eine zeitliche Referenz, als ein temporaler Vektor figuriert. 


 Definitorische vs. konnotative Konzepte von Nacht

Marie-Charlotte von Lehsten hat zwei Kategorien vorgestellt, die eine binäre Klassifikation ihrer Fragestellungen ermöglichen. So oszillieren die zu eruierenden definitorischen Konzepte von Nacht um die Frage 'Was ist Nacht?' und sollen Wesensmerkmale, grundlegende Prädikationen dieses Naturphänomens zusammenbündeln. Zentral ist dabei, ob die Nacht nur ex negativo, als Abwesenheit von Licht, oder als eine Entität sui generis aufgefasst wird. Es wird jedoch nicht der Anspruch erhoben, eine einheitliche, kohärente, allgemein gültige Antwort in emphatischer Ausschließlichkeit aus den verschiedenen Texten herauszudestillieren. Intendiert wird vielmehr ein Vergleich verschiedener definitorischer Sedimente, die als Panorama erfasst und in ihren Synergien oder Rivalitäten beschrieben werden. Die konnotativen Konzepte gehen ihrerseits von folgendem Fragekatalog aus: 'Wie wird die Nacht wahrgenommen?'; 'Was wird mit der Nacht assoziiert?'; 'Welche Emotionen werden mit der Nacht verbunden?'; 'Welche Arten von Handlungen kommen in der Nacht vor?'; 'Wie unterscheiden sich die Nachthandlungen von ihren Analoga tagsüber?'. Auch hier wurde darauf hingewiesen, dass die Konnotate keinen invariablen Fundus bilden, sondern gattungsspezifisch und kontextsensitiv sind: So stehen etwa in den Tragödien die erotischen Semantiken, Liebe und Sexualität – entgegen dem intuitiven modernen Verständnis – regelmäßig außerhalb des Assoziationsradius der Nacht. Marie-Charlotte von Lehsten hat zudem betont, dass es sich in erster Linie um heuristische Kategorien handelt: Bei der praktischen Applizierung auf konkrete Textpassagen können nicht alle Erkenntnisse strikt nur der definitorischen oder der konnotativen Formation des hier entwickelten methodischen Substrats zugeordnet werden und es ist mit zahlreichen Interferenzen zu rechnen.

An einem Beispiel aus dem pseudo-euripideischen Rhesos (V. 285–289) wurde die abundante Konnotierung der Nacht als Zeit der Transgression illustriert. In einer Unterhaltung zwischen Hektor und einem Boten, der von Rhesosʼ nächtlicher Ankunft mit einem großen Heer berichtet, wird retrospektiv die Angst der Anwesenden geschildert, die Rhesosʼ Einmarsch als eine feindliche Aktion eingestuft haben. Im Modus einer kollektiven Deutung wird demonstriert, wie eine Handlung durch die Verabsolutierung des temporalen Bezugsrahmens bzw. nur aufgrund des Zeitindex Nacht, ohne Berücksichtigung anderer situativer Kriterien, als militärische Bedrohung, als Subversionsakt klassifiziert wird.


Allerdings hat Marie-Charlotte von Lehsten keine ausschließliche Prävalenz der negativen Lesarten postuliert, sondern deutlich gemacht, dass die Nacht auch positive Konnotate absorbieren kann. Auf die exponierten Gefahrsemantiken antithetisch beziehbar ist beispielsweise eine Textpassage aus der Ilias, wo der Nacht eine Schutzfunktion attribuiert wird: Hypnos, der Schlaf, evoziert einen früheren Konflikt mit Zeus, bei dem Zeus ihn aus dem Himmel verstoßen hätte, hätte ihn nicht Nyx, die Nacht, in Schutz genommen. Durch diese Angst vor dem eruptiven Zorn des höchsten Gottes exkulpiert Hypnos den Ungehorsam gegenüber Hera, die mit seiner Hilfe Zeusʼ Wachsamkeit manipulieren will. An Hypnosʼ formulierter Begründung für den abgelehnten Auftrag ließ sich darüber hinaus auch eine Inszenierung der Nacht als einer Autoritätsinstanz im griechischen Pantheon beobachten, wobei infolge dieser Machtkonzentration selbst Zeus eine Konfrontation mit ihr vermeidet. Das ist wiederum mit der Rolle der Nacht im mythologischen Stammbaum kongruent, wo sie mit hohem Alter prämiert wird bzw. eine der ersten Positionen in den genealogischen Götterphantasien einnimmt.

Fragen und Anregungen: Der Potentialis der Dissertation

Sollte man die Choreographie der Plenumssitzungen mit grammatischer Terminologie beschreiben, würde sich folgende Skizze ergeben: Während die Vorträge der jüngsten Generation im Graduiertenkolleg die morphologische Signatur des Futurs tragen und zahlreiche Fragen und Ansätze katalogisieren, denen man in den nächsten Arbeitsstadien nachgehen wird, kommen in der anschließenden Diskussion diverse Vorschläge zur Sprache, die möglicherweise in die Dissertation implementiert werden könnten und vorläufig als Potentialis festgehalten werden. Eine Anregung betraf beispielsweise die Eruierung der Affinitäten zwischen der Nacht und bestimmten Räumen, die als Schauplätze für nächtliche Handlungen favorisiert werden, wodurch stabile Chronotopoi herauszuarbeiten wären, an denen die Nacht partizipiert. Marie-Charlotte von Lehsten hat diese Fragestellung mit der transgressiven Funktion der Nacht in Korrelation gebracht und erklärt, dass der Nexus zwischen Nacht und Raum dahingehend zu definieren ist, dass nachts viele Räume zugänglicher werden bzw. dass die Nacht als Katalysator unter anderem für topographische Grenzüberschreitungen fungiert. Ferner wurde eine Öffnung des Textkorpus auch auf das Corpus Hippocraticum hin suggeriert, um die Auswirkungen der Nacht auf Körperfunktionen und Krankheitsbilder zu bestimmen. Ein anderer Vorschlag bezog sich auf die Berücksichtigung von Irregularitäten im Tag-Nacht-Wechsel, die sich etwa als Sonnenfinsternis manifestieren.
 

Kommentare