Vortrag von Univ.-Prof. Dr. Ursula Verhoeven-van Elsbergen - Altägyptische Variationen über Anfang und Ende der Welt

Ein Beitrag von Victoria Altmann-Wendling.

Der zweite Vortrag der interdisziplinären Ringvorlesung "Anfang und Ende. Vormoderne Szenarien von Weltentstehung und Weltuntergang" des Graduiertenkollegs 1876 wurde von Prof. Dr. Ursula Verhoeven-van Elsbergen, seit 1998 Professorin für Ägyptologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, bestritten. Mit ihrem Vortragstitel "Altägyptische Variationen über Anfang und Ende der Welt" verwies sie bereits auf die Tatsache, dass es in der altägyptischen Vorstellung nicht nur ein einziges Konzept der Schöpfung gibt. Die Existenz vieler unterschiedlicher Erklärungsansätze wird als 'multiplicity of approaches' bezeichnet und ist der gesamten ägyptischen Religion inhärent. Die geographischen Gegebenheiten Ägyptens, dessen Besiedlung sich an den beiden schmalen Ufern des Niltals konzentriert, beförderte die Entwicklung lokalspezifischer Theologien, die jedoch im Laufe der Zeit auch auf andere Orte übertragen wurden und nebeneinander koexistierten, ohne sich gegenseitig auszuschließen. Vielen Vorstellungen gemeinsam sind der täglich zu beobachtende Sonnenaufgang, in dem sich für die alten Ägypter die Schöpfung zyklisch manifestierte, sowie die Entstehung aus einem Urwasser, für das der allgegenwärtige Nil Pate gestanden hat. Angelehnt an den Sonnenlauf ist auch die Vorstellung einer sich zyklisch wiederholenden und nicht abgeschlossenen Schöpfung, weshalb die Weltentstehung als "erstes Mal" bezeichnet wird.
 

Urozean und Urkuh

Ein mit den Pyramidentexten bereits sehr früh belegtes Konzept ist das des Urozeans Nun als undifferenzierter Zustand (eine wichtige Wendung ist die des "noch nicht" Entstandenen). Aus dieser aquatischen Umwelt, die den Ägyptern durch die jährliche Nilüberschwemmung wohlbekannt war, entstanden in Form von Schlangen (weiblich) und Fröschen (männlich) zwei mal vier Götter, die sogenannte Achtheit von Hermopolis. Eine weitere Variation ist ein Kindgott, der auf einer aus dem Urwasser wachsenden Lotosblüte sitzt, deren gelbe Farbe des Stempels leicht mit der aufgehenden Sonne verbunden werden kann. Im Tempel von Esna ist es eine Kuh, die im Wasser treibt und auf deren Rücken oder Gehörn der kindliche Amun sitzt. Auch hier liegt der Ursprung in einer Beobachtung aus der natürlichen Umwelt, nämlich den oftmals von Kindern durch den Fluss getriebenen Kühen.
 

Krokodil und Falke

In der Oase Fayum war es die Beobachtung der dort vorkommenden Krokodile, die zu einem weiteren Schöpfungsmythos anregte: Im 'Fayumbuch', einem mythologischen Papyrus, wird der Krokodilgott Sobek beschrieben, der aus dem Urwasser kriecht. Im oberägyptischen Tempel von Edfu hingegen ist es der Falkengott Horus, der sich auf dem aus dem Wasser sprießenden Schilf niederlässt und aus dem alles Weitere entsteht. Als geflügelte Sonne begibt er sich sodann an den Himmel und teilt diesen in die Kardinalpunkte Ost und West, eine weitere Ausdifferenzierung der uranfänglichen Welt.
 

Von Heliopolis nach Memphis

Auch in der Sonnenstadt Heliopolis gibt es nicht nur ein Konzept der Weltentstehung. So konnte einerseits der Benu-Vogel ('Phönix') derjenige sein, der sich auf dem aus dem Wasser auftauchenden Urhügel niederließ. Auch sein Ei spielt eine Rolle, dessen gelber Dotter erneut an die Sonne erinnert haben mag. Der berühmteste Schöpfungsmythos jedoch ist der von Atum, dessen Name zugleich 'Alles' und 'Nichts' bedeutet. Nach der Vorstellung der Ägypter entstand er von selbst und bildete hernach eine Göttergruppe mit neun Mitgliedern, die sogenannte Neunheit. Dies kann auf unterschiedliche Weise geschehen: Eine Überlieferung lässt ihn das erste Götterpaar ausspucken, eine andere lässt es durch Masturbation entstehen. Das verbindende Element ist jeweils das Konzept, dass alles bereits im Urgott vorhanden ist und sich durch die Ausscheidung seiner Körperflüssigkeiten entfaltet. Die ersten Nachkommen sind Schu und Tefnut (wohl Luft und Feuchtigkeit), ihre Kinder Geb und Nut (Erde und Himmel). Diese zeugen gemeinsam die nächsten vier Götter: Osiris und Isis, Seth und Nephthys. Mit diesen kommen nach Verhoeven-van Elsbergen zugleich die für den Menschen relevanten Themen in die Welt: Geburt und Tod, Geschichte und Kultur.
 
Ein gänzlich anderes Konzept ist das des Gottes Ptah von Memphis. Dieser als Handwerker charakterisierte Gott macht sich zunächst einen Plan (in der ägyptischen Vorstellung mit seinem Herzen) und spricht diesen danach aus (mit der Zunge). Dies ist der erste Beleg einer Schöpfung durch das Wort, wie es uns aus der Bibel gut bekannt ist. Ferner kann der Vorgang jedoch auch weit praktischer vonstattengehen, wenn er als Töpfer gemeinsam mit dem Gott Chnum alle Lebewesen formt.
 

Weltende: Sonnenfahrt und Himmelskuh

Für das Ende der Welt hält die ägyptische Mythologie ebenso mehrere Varianten bereit. Doch wird dieses aufgrund seiner negativen Konnotation selten erwähnt. Der mögliche Weltuntergang stand den Ägyptern täglich in Form der untergehenden Sonne vor Augen, die bei ihrer Nachtfahrt in der Unterwelt Gefahr lief, nicht wieder aufzugehen. Gefahren bildeten dabei etwa Sandbänke, auf denen die Götterbarke aufzulaufen drohte, sowie die Schlange Apophis, die jedoch vom mächtigen Gott Seth mit einem Speer getötet wurde. Auch kann Re selbst in Form eines Katers die Schlange mit einem Messer abwehren. Diese Mythen begegnen uns z.B. in den Gräbern im Tal der Könige des Neuen Reichs.
 
Weitere Konzepte vom Weltuntergang haben den gealterten Sonnengott zum Thema, der sich von den Menschen entfernt, da diese gegen ihn rebellieren, sei es im Horus-Mythos von Edfu oder im Mythos von der Himmelskuh. Beiden mag die Beobachtung der Sonne zugrunde liegen, die sich während der Wintersonnenwende von Ägypten entfernt. Andere Vorstellungen sehen die gesamte Welt wieder im Nichts versinken, in dem nur der Urgott Atum gemeinsam mit Osiris existiert, so dass ein undifferenzierter Zustand ähnlich wie vor der Schöpfung entsteht.
Am Ende ihres Vortrags unterschied Verhoeven-van Elsbergen zusammenfassend zum einen unterschiedliche stoffliche Phänomene (Urmaterie, Urimpuls, Urerhebung, Urgewächs und Urgestirn), zum anderen verschiedene konzeptuelle Ebenen (geistig-abstrakt, naturbezogen, kosmisch, elementar, körperlich, handwerklich). Eine wichtige Erkenntnis ist, dass sich die Schöpfung in der Sicht der alten Ägypter als dauerhaft gefährdet präsentierte und durch Opfergaben und Rituale (z.B. der Feindvernichtung und der Besänftigung) aufrechterhalten werden musste. Zugleich hofften die Menschen, dadurch an den regenerativen Kräften teilzuhaben, die eine zyklische Erneuerung auch ihres eigenen Lebens ermöglichten.

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